Es ist schon ein starkes Stück, wenn man sich ansieht, wie die Menschheit die Pocken besiegt hat. In diesem erstaunlich kurzweiligen, fürs Internetzeitalter aber doch recht langen (20 Minuten) Video, wird klar, dass der wissenschaftliche Fortschritt nur die eine Seite der Medaille darstellt. Die verschiedenen Kulturen dieser Erde und ihre jeweiligen Vorstellungen darüber, was eine Krankheit ist, wie sie sich verbreitet, wie sie funktioniert, wie man sie in seine Vorstellung der Welt einordnen muss, und wie man mit ihr umgehen soll, die absolut nicht zu unterschätzende, wenn nicht sogar weitaus wirkmächtigere andere. Wissenschaft kann ohne Akzeptanz vonseiten der sie anwendenden Kultur nicht funktionieren, wird in dieser Dokumentation schnell klar.
Wir alle, die wir zu COVID-Zeiten miterlebt haben, welche Vorstellungen Menschen über Krankheiten haben und wie sie auf Grundlage dieser Vorstellungen agieren, können heute, angesichts auch ihrer politischen Auswirkungen, alle aus entsprechender Erfahrung sprechen. Und da werden wir einiges sehen, das wir aus COVID-Zeiten kennen. Im Video gibt beispielsweise eine Szene, in der gezeigt wird, dass Menschen mit einem leichten Krankheitsverlauf (der Pocken) absichtlich mit gesunden Kindern ins selbe Bett gelegt wurden, damit diese sich infizieren und, so die Vorstellung, auch einen leichten Krankheitsverlauf durchmachen. Dass der Krankheitsverlauf hochgradig individuell bestimmt wird, war bei denen, die solchen Heilpraktiken nachgingen, nicht Teil der Vorstellung darüber, was eine Krankheit ist, wie sie verursacht wird und funktioniert.
In anderen Worten: Unsere Handlungen werden vom kulturell beeinflussten, geistigen Abbild darüber, wie die Dinge funktionieren, geleitet, und nicht von der kühlen, wissenschaftlichen Erkenntnis per se. Erst wenn es den aus der Wissenschaft stammenden Lösungsmodellen (für ein bestimmtes Problem) gelingt, auch die kulturellen Vorstellungen einer Bevölkerungsgruppe zu durchdringen, in dem sie kulturell verarbeitet und somit in weiterer Folge auch akzeptiert werden, erst dann besteht überhaupt die Chance, dass sie breit angewendet und zum Erfolg führen können.
Jason Kottke, bei dem ich das Video gefunden habe, zitiert eine Sequenz aus dem Video, die das kulturelle Akzeptieren wissenschaftlicher Erkenntnis verdeutlicht, da die Pocken aus diesem Grund nicht ein-, sondern zweimal ausradiert werden mussten. Ein Teil der Weltbevölkerung war schlichtweg kulturell noch nicht offen genug, um mit der wissenschaftlichen Entwicklung Schritt halten zu können; und die Vorstellung, dass eine Krankheit eine irgendwie gerechtfertigte Strafe (oder ähnliches) sei, bot der Möglichkeit von Heilung (durch Impfung) Widerstand. Eigentlich ein sehr verdeutlichendes Bild: Die Nadel, die den Impfstoff unter die Haut bringt, muss auch zuerst die Oberflächenspannung und den Widerstand der Haut durchdringen, bevor sie an den Ort gelangen kann, der erreicht werden muss, damit der Impfstoff seine Wirkung überhaupt erst entfalten kann.
The scientific breakthroughs of inoculation and the vaccine allowed many countries to become virtually smallpox-free — but not all countries. In fact, those 300 to 500 million deaths […] came well after the vaccine had been discovered. So clearly, for much of the world, something more was needed than medical innovation. […] Part of being a human is contemplating why some of us get so sick. […] As we learned about disease, the theory goes that we began to think a little differently about those who fell ill […] We stepped away from thinking it was up to a higher power and into the belief that […] it was up to us.
Das Video ist ein Lehrstück darüber, wie viele Zahnräder sich drehen müssen, damit ein so großes Unterfangen, wie die weltweite Auslöschung einer Krankheit, funktionieren kann; welche Rolle die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dabei gespielt hat; und wie, nach und nach, eine systematische Jagd auf den Erreger stattfand und letzten Endes zum Erfolg führte.
Und ja, es ist alles viel komplizierter als es die Telegram-Gruppe suggeriert. Und weil ich schon die Telegram-Gruppe als Synonym für die ach so frei denkenden Menschen heranziehe, dann muss ich auch noch ein weiteres Zitat aus dem Video anführen, das mir deshalb bemerkenswert erscheint, weil es nüchtern feststellt, warum Impfungen so schnell der Kritik ausgesetzt sein können. Es liegt schlicht und einfach daran, dass man Impfungen nicht gut vermarkten kann, da sie Auswirkungen verhindern, ihre Wirkung also entfalten, bevor das Problem eintritt, und nicht Krankheiten heilen.
Impfungen sind aus Sicht der Marketings unsichtbar. Eine Problemlösung für ein Problem, das gar nicht erst eingetreten ist, ist schwieriger zu bewerben als eines, das man gelöst hat und für dessen Lösung es augenscheinliche Beweise gibt. Bei Impfungen gibt es niemanden, den man als Testimonial zeigen kann, niemanden, der beschreiben kann, wie gut jetzt alles ist und wie schlecht es war, weil ja der schlechte Zustand nie eingetreten ist1.
Considering how long this moment was in the making, it’s remarkable how quickly it faded from public memory. […] Vaccines generally go underappreciated, because they don’t heal illness, they prevent it. So we don’t get to see people being saved. And smallpox is especially forgettable, because once it was eliminated from a country, it was truly gone.
Meine Güte, wie weit hintennach sind wir eigentlich? Denn die Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, sind kaum unmittelbar zu sehen und ihre Auswirkungen auf unser Leben nur schwierig zu begreifen, wenn wir nicht gewillt sind, uns ernsthaft damit auseinander zu setzen. Aber ernsthaftes mit einem Thema Auseinandersetzen ist aufwändig, kostet Zeit und verschlingt Ressourcen. Einen Screenshot in einem sozialen Netzwerk posten, damit einen Einstiegspunkt für politische Parteien schaffen und somit indirekt diejenigen behindern, die die Ressourcen aufbringen, um eine echte Lösung präsentieren zu können, geht da schon viel schneller.
- Das ist übrigens, so vermutet man, einer der Gründe für die aktuellen Ausbrüche der Masern in den USA: die Menschen können sich einfach nicht vorstellen, was für eine problematische Krankheit die Masern eigentlich sind, weshalb sie ihre Kinder nicht impfen lassen, weil die Wirkung des Impfstoffs nicht augenscheinlich ist. ↩︎