Sonntagsarabesken #106

Am Ufer der Salzach sitzend träumte sie sich in die Gärten des Alcazar. Kälte stieg vom Wasser auf. Gekräuselter weißer Schaum tanzte zwischen den Steinen der Uferböschung, spülte an manchen Stellen über braunes Gras, zog sich wieder zurück, um kurz darauf von Neuem als Wellenkamm heranzubrausen. Eine Bewegung wie das Atmen eines flaschengrün gescheckten großen Tieres, das sich in grauer Vorzeit in das granitstarrende Tal gebettet hatte. Ein Luftzug an ihrem Hals läßt sie frösteln. Eisiger Kuß eines Begleiters, den sie schon abgeschüttelt geglaubt hatte. In der pfirsichfarbenen Morgenröte heben sich die Mauern des Palastes wie polierte Marmorspiegel gegen die dicht mit Zypressen, Pinien und Buchsbaumgehölz bestandenen Hügelflanken ab. Die Höfe sind kühl von der Nacht. Letzter Zikadengesang. Nackte Fußsohlen auf glänzenden Steinplatten. Feiner Sprühnebel hängt über den Springbrunnen. In den Ställen stampfen die Pferde. Die Sehnsucht hatte schwarze Schwingen, unter der sich das Geschöpf einer wunderbaren Vergangenheit verbarg. Sie vergrub die Hände in seinen dunklen Haare, mit den Fingern zwischen den Strähnen wühlend, sie preßte sich an seinen Körper, der ihr mehr Widerstand entgegensetzte als sonst. Die erste Träne bahnte sich träge ihren Weg aus dem Augenwinkel, in kristallheller Bahn über die Wange tropfend, auf seinen Handrücken, der unschlüssig auf ihrer Hüfte zu liegen gekommen war. Leerer Blick schweift über die Häuserzeile am anderen Ufer, ohne an einer der glatten Fassaden hängen zu bleiben. Das Schlagen der Wohnungstür markiert mit dumpfem Knall eine Variante des Endes. Eine andere wird sich später, nach einigen Stunden erst, kurz vor dem Einschlafen, um ihren Hals krallen. Diesmal kein Geräusch, sondern der brutale Angriff eines giftigen kleinen Tieres, das sich selbst gerne Panik nannte. Einsamkeit floß unter dem Türspalt in grünen Schwaden ins Zimmer. Orangenbäume mit weißen Blüten bestickt. Oder das Rauschen des Meeres am Hafen von Barcelona. Die klare, nach Schnee und feuchten Wiesen schmeckende Luft der Pyrenäen. Sie sitzt unbeweglich. Nicht einmal ihr rechtes Bein, über das linke geschlagen, wippt im üblichen nachlässigen Takt. Eine Starre hat sich über sie gelegt. Wie Frost. Versteinerung. Ort und Zeit haben sich in einer Weise überkreuzt, die nicht mehr zum tatsächlichen Zustand passen will, zum beschaulich wuchernden Alltagsbild, dessen Teil sie, die Statue auf der Holzbank am Flußufer, unmerklich geworden ist. Sie paßt nicht mehr hierher. Die Erkenntnis lähmt sie. Das Gewohnte schlägt um in unterträglichen Schmerz. Ekel breitet sich aus. Die Blüte ihrer Erinnerung hat sich geöffnet; der Duft ist nicht mit dem aus Eiskristallen gefügten Bild der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Sie will aufstehen und das Wasser des Flusses berühren. Es um ihre Knöchel fließen spüren. Es in Mund und Nasenlöchern brennend verschlucken, sich darin auflösen, ihren Körper rund um einen einzigen, riesigen Schluck von diesem Wasser neu organisieren. Doch wie festgefroren ist sie auf der Bank. Sie atmet und atmet und begreift, dass die Erstarrung ihr das Leben rettet. Die Sonne ist über die Berge gestiegen. Die Dächer des Schlosses brennen mit rotgoldenem Schein. Doch diese Wärme kann nichts mehr bewirken. Sie ist Erinnerung.