Eine junge Frau hat ein Selfie mit ihrem soeben verstorbenen Vater auf Instagram gepostet. Im Hintergrund hängt die Leiche des Vaters in geknickter Haltung im Krankenbett, im Vordergrund posiert die junge Frau mit Sommerhut und Duckface. Im Bild befindet sich der Text „Vater… Ruhe in Frieden“, gefolgt von den Emojis 💔😭😭😭. Immerhin ist das Gesicht des Vaters auf allen Screenshots, die von dem Instagram-Post gemacht wurden, verpixelt. Immerhin!
Ich selbst war von diesem Foto erstaunt und die Reaktionen in den Kommentaren – ein kapitaler Shitstorm, der die junge Frau veranlasst hat, ihr gesamtes Instagram-Profil zu löschen – erscheinen mir auch verständlich. Dass sie aber den Tod ihres Vaters im Medium Social Media verarbeitet hat, wundert mich gar nicht, wenngleich ich ihre Handlung nur abstrakt nachvollziehen kann. Ich habe mich deshalb mit Freunden, Kollegen und Bekannten unterhalten und sie nach ihrer Meinung zu einem „Selfie mit totem Vater“ gefragt. Der Spannungsbogen der Reaktionen war vorhersehbar: Auf der einen Seite totale Ablehnung. Sie wurde mit der Würde des Lebens, der Intimität des Sterbens und der Pietät des Todes begründet. Auf der anderen Seite Zustimmung und Verteidigung der Tat, bishin zur Formulierung „nicer Scheiß“ (ja, wirklich!), die, wie ich herausfinden konnte, ein Code für die Loslösung des Dargestellten („soeben ist der Vater gestorben und ich trauere“) vom Ergebnis der Darstellung („nach Likes und Anerkennung strebendes Bild eines Toten im Krankenbett hinter einem Selfie mit Sommerhut und Duckface“) ist. In beiden Fällen – Ablehnung als auch Zustimmung – spielt die emotionale Bindung zwischen Vater und Tochter die entscheidende Rolle: Im ersten Fall ist das Resultat der Argumentation über ein intimes Verhältnis der Schutz vor der Öffentlichkeit, im zweiten Fall begründet dieses Verhältnis den Willen und die Rechtfertigung zur Veröffentlichung.
Ist der Zugang mit dem Resultat einer Veröffentlichung legitim? Auch wenn ich ihn nur abstrakt verstehen kann, so denke ich: ja. Wenn es in Ordnung ist und mit Likes und positiven Kommentaren bestärkt wird, Fotos von Freundschaft, Verlobung, Hochzeit, Geburt und dergleichen zu veröffentlichen, dann muss es auch in Ordnung sein, Fotos vom Sterben zu veröffentlichen. Klar gelten auch hier die gleichen Regeln wie für Geburten und Hochzeiten: Man kann den Tod entweder so pietätlos und peinlich darstellen wie die junge Frau es getan hat, oder aber man macht es in einer subtilen und würdigen Andeutung. Sicherlich ist letzteres schwieriger, klar, denn es involviert mehr als nur ein Smartphone und aufgespritzte Lippen, es benötigt die Fähigkeit und die Zeit zur Reflexion. Aus einem instinktiven Snapshot wird aussagekräftige und berührende Fotografie. Reflexion, Denkarbeit, das Verstehen der Situation, das Wahrnehmen, Verarbeiten und, letztendlich, das Einfangen des Moments in einer Fotografie – das sind alles Fähigkeiten (und Tätigkeiten), die man von Frau Duckface, Leiche und Sommerhut nicht erwarten konnte: ihr Instagram-Account war Tits and Ass, wie es in A Chorus Line heißt, und wie Artikeln über das Selfie zu entnehmen ist. Dass daraus von einem Moment zum nächsten etwas anderes als Fleischbeschau werden sollte, hätte mich ehrlich gewundert. Immerhin ist sie sich dahingehend treu geblieben und hat damit ihrem Publikum vielleicht sogar die Augen geöffnet: Denn wer einen Kanal abonniert, der zur Fleischbeschau einlädt, der darf sich nicht wundern, wenn auch eine unerwartete Situation wie der Tod eines Menschen im gleichen Stil präsentiert wird.