Facebook sammelt ultra-sensitive Daten. Moment!

Facebook hat eine dystopische Analyse- und Werbemaschinerie erschaffen. Dass sie aber von Unternehmen aktiv und gegen die Nutzungsbedingungen verstoßend eingesetzt wird, ist nicht die Schuld von Facebook. Ungut, wenn ein Artikel diesen Eindruck vermittelt.

Über Twitter bin ich auf einen Artikel aufmerksam geworden, der auf The Markup und bei Reveal veröffentlicht wurde: Facebook and Anti-Abortion Clinics Are Collecting Highly Sensitive Info on Would-Be Patients. Der Tweet, der den Beitrag promotet, sieht im Feed von Reveal so aus:

NEW INVESTIGATION: Facebook is collecting ultra-sensitive personal data about abortion seekers. And it’s enabling anti-abortion organizations to target people online. That’s a violation of its own policies and promises.

@reveal

Und bei The Markup nicht viel anders:

Experts and advocates have warned about how Facebook’s ad technology can be exploited. In the wake of the Supreme Court’s leaked opinion on Roe v. Wade, their concerns are even more urgent.

@themarkup

Bad news is good news und bad news über Facebook erhellen ganz grundsätzlich jeden Tag, in dem konkreten Fall sind die schlechten Nachrichten in meinen Augen schlecht recherchierte, bzw. fast passender: schlecht erklärte, und somit den Fokus und das Moment des Problemfalles verzerrende Nachrichten. Worum geht es?

Onlinemarketing wird zum Problemfall

Die Journalisten Grace Oldham und Dhruv Mehrotra haben über Monate hinweg recherchiert, wie Facebooks Werbesystem von „Pregnancy Centers“, das sind „quasi-health clinics, mostly run by religiously aligned organizations whose mission is to persuade people to choose an option other than abortion“, missbraucht wird, um ihre Policies auch unter Zuhilfenahme der von Facebook bereitgestellten Tools online zu verfolgen und Personen, die mit den Websites eben dieser Pregnancy Centers interagieren, mittels Retargeting und anderer, üblicher Marketingmaßnahmen zu bewerben. Remarketing (oder Retargeting) lassen bestimmte Werbungen und Marken immer und immer wieder auf unterschiedlichsten Kanälen aufkommen, sodass man sie im Bewusstsein behält und immer wieder daran erinnert wird, sobald man einmal ein Angebot des Werbenden angesehen (aber keinen Kauf durchgeführt) hat.

Facebook ads have the highest return on investment (ROI) of any type of online marketing – even twice the ROI of Google Ads […] Facebook ads can also be placed on Instagram and other apps for free, extending your reach at no extra cost. […] Retargeting is an effective method of keeping your center at the forefront of their minds. … This digital marketing method can also help build credibility and trust as women go through the decision-making process because your center’s name becomes familiar to them.

In anderen Worten: Pregnancy Centers agieren wie jedes andere online werbende Unternehmen. Sie nutzen die Möglichkeiten, die die großen Marketingunternehmen wie Facebook und Google bieten. Dass sie dabei aber gegen Nutzungsbedingungen verstoßen – explizite, das Werben auf Basis von und mit Gesundheitsdaten verbietende Nutzungsbedingungen! – wird im Artikel zwar erwähnt, aber auf eine Art und Weise, die die ganze Sache in meinen Augen stark verzerrt und am Ende Facebook als der Schuldige dasteht und nicht die Pregnancy Centers, die Facebooks Technologie aktiv und bewusst einsetzen.

Verschiebung der Verantwortung

Der Titel des Artikels lautet übersetzt „Facebook und Anti-Abtreibungskliniken sammeln höchst sensitive Daten über mögliche Patientinnen“, aber der Einleitungstext – sowohl bei The Markup als auch bei Reveal – bewegt den Fokus eindeutig weg von den Pregnancy Centers und hin zu Facebook. Bei The Markup heißt es bereits im Intro:

The social media giant gathers data from crisis pregnancy centers through a tracking tool that works whether or not a person is logged in to their Facebook account.

The Markup

Das Framing hier ist eindeutig zu Ungunsten von Facebook. Leserinnen und Leser erwarten sich nach diesen einleitenden Worten einen Beweis für die Schuldhaftigkeit von Facebook, während Pregnancy Centers in ihrer Verantwortung deutlich eingeschränkt dargestellt werden. Macht Reveal das besser? Mitnichten! Dort heißt es im ersten Absatz:

Facebook is collecting ultra-sensitive personal data about abortion seekers and enabling anti-abortion organizations to use that data as a tool to target and influence people online, in violation of its own policies and promises.

Reveal

Das klingt doch fast noch schlimmer! Hier wird der Eindruck vermittelt, Facebook würde die Daten eigenständig sammeln und zur Nutzung bereitstellen. (Fast möchte ich in so einem Intro herauslesen, dass Facebook Pregnancy Center überhaupt erst dazu motiviert, die umfangreichen Werbemaßnahmen gegen die eigenen Nutzungsbedingungen und gegen die Interessen der Userinnen zu nutzen.) In Wirklichkeit sieht die Sache aber ganz anders aus: Pregnancy Centers nutzen bewusst und aktiv die von Facebook bereitgestellten Technologien, um Userinnen und User auf ihren Websites zu tracken und für zukünftige Werbemaßnahmen mit einer digitalen Markierung zu versehen. Noch einmal: Nicht Facebook sammelt ohne Auftrag die Daten auf den Websites der Pregnancy Centers, sondern die Pregnancy Center setzen die von Facebook bereitgestellten Tools entgegen der Nutzungsbedingungen aktiv ein, um diese Daten zu sammeln, an Facebooks Analyse- und Verwertungsmaschinerie zu senden und mit den Resultaten weiter zu arbeiten.

Der Fokus eines solchen Artikels sollte also auf den Pregnancy Centers und ihrem gegen die Nutzungsbedingungen verstoßenden Einsatz der Facebook-Technologien liegen und nicht bei der Bereitstellung solcher Technologien vonseiten Facebooks.

Meinungsbildung im Detail

Von nun an wird der Artikel eine Tour de Force der Meinungsbildung. Wir haben nun festgestellt, dass der Artikel auf The Markup bzw. bei Reveal Facebook als den Schuldigen in Bezug auf den Umgang mit gesundheitsrelevanten Daten hinstellen möchte und die Pregnancy Centers wenn überhaupt, dann nur sehr vorsichtig und abgeschwächt in die Verantwortung nimmt. Das ist ungut, denn Meinungsbildung dieser Art enthebt diejenigen, die die Technologie einsetzen, ihrer Verantwortung, und verfälscht die Wahrnehmung und Verortung des Problems.

Zuerst wird im Artikel auf den Umstand hingewiesen, wie problematisch Daten über Personen sein können, die Informationen zum Thema Abtreibung suchen. (Okay.) Außerdem bemerken die beiden Journalisten, dass Facebook-Skripte auf vielen Websites von eben jenen Pregnancy Centers eingesetzt werden und dass das gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstößt. (Auch noch in Ordnung.) Ab dann beginnt aber eine etwas eigenartige Argumentation durchzuschlagen, die den Eindruck vermittelt, es wäre Facebook, das die Daten abgreift, ohne dafür von den Pregnancy Centers aktiv (durch die Implementierung des zugehörigen Codes) aufgefordert worden zu sein. (Und das ist nicht mehr in Ordnung.)

„Reveal and The Markup have found Facebook’s code on the websites of hundreds of anti-abortion clinics. […] In many cases, the information was extremely sensitive – for example, whether a person was considering abortion or looking to get a pregnancy test or emergency contraceptives.

Und obwohl im Artikel durchaus darauf hingewiesen wird, dass diese Art des Einsatzes des von Facebook bereitgestellten Codes gegen die Nutzungsbedingungen verstößt, geht das in der Wahrnehmung und Formulierung der Kernaussage des Artikels fast schon unter. Der Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen wird erwähnt, doch schon geht es weiter im Text und die beiden Journalisten erklären ein Feature von Facebook, das es ermöglicht, gesundheitsrelevante Daten per Machine Learning aus den an Facebook übermittelten Daten zu filtern. Warum ist das so prominent erwähnt? Warum das und nicht die Tatsache, dass die Trackingtechnologie überhaupt auf den Websites eingesetzt wird?

Es geht weiter: Websites von Pregnancy Centers senden Daten an Facebook, wenn Personen Termine vereinbaren. Facebook verarbeitet diese Daten dann automatisiert. (Ja was denn sonst?! Das ist Sinn und Zweck von Trackingskripten.)

Dann, ein kleiner Hoffnungsschimmer in Bezug auf die Verantwortung der die Facebook-Technologie einsetzenden Sites in diesem Artikel in Form dieses einen Satzes, doch selbst der wird im zweiten Teil wieder abgeschwächt.

Crisis pregnancy centers and other businesses can choose whether to install Pixel on their websites, though many website builders and third-party services automatically embed trackers.

Es folgen ein paar generelle Hinweise über die Gefahren des personenbezogenen Trackings, doch schon bald schwingt das Pendel der Schuld wieder in Richtung Facebook, denn abermals kritisieren die beiden Journalisten die von Facebook angebotene Technik und die darin enthaltenen Schutzmechanismen, die aber – das darf man nicht vergessen -, bereits Maßnahmen gegen den missbräuchlichen Einsatz der Technik an sich sind! Das Kapitel endet mit einer in meinen Augen eindeutigen Schuldzuweisung an Facebook – ein passend gesetztes Zitat eines Dritten:

Facebook does not have an incentive to crack down on violations of its advertising policies […] That costs them money to do. As long as they’re not legally obligated to do so, why would they expend any resources to fix this?

Ich halte fest: Facebook, Facebook, Facebook, Facebook. Facebook macht dieses, Facebook ermöglicht jenes. Ach, und ja, eigentlich verstoßen die Pregnancy Centers gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook. Aber Facebook tut nichts dagegen.

Nächstes Kapitel mit 6 Absätzen und der Kapitelüberschrift „Using Data to Make Abortion ‚Unthinkable'“. Zusammenfassung: Pregnancy Centers sind nicht so heilig wie sie tun, ganz im Gegenteil. Aber sie nutzen ja nur Möglichkeiten des Onlinemarketings, so, wie das auch andere Unternehmen tun. Ja, sie verbreiten Falschinformation auf Facebook. Ach ja, „Facebook showed ads promoting an unproven medical procedure […]“ – es war Facebook, das diese Anzeigen ausgespielt hat. Facebook, Facebook, Facebook! Und nicht die Agentur, die im Auftrag eines Unternehmens solche Werbung überhaupt erst möglich gemacht und dafür bezahlt hat.

Aber es wird noch peinlicher, wenn im nächsten Kapitel die Recherche präsentiert wird.

Revolutionäre Recherche

Die beiden Journalisten beschreiben, wie sie Facebook auf die Schliche gekommen sind. Es ist ein an Peinlichkeit nicht zu überbietendes Kapitel, das man auf The Markup und bei Reveal unter der Überschrift „How we tracked the data“ lesen kann. Zusammenfassung:

  1. Die Journalistin Grace Oldham erstellt ein neues Facebook-Profil.
  2. Sie besucht im bei Facebook eingeloggten Zustand in einem von seiner History geleerten Browser die 294 Websites verschiedener Pregnancy Centers, auf denen das Facebook Pixel installiert wurde und macht sich auch Beratungstermine aus.
  3. Ein paar Wochen später lädt sie sich ihre von Facebook gesammelten Daten über dessen Privacy Center herunter und stellt fest, dass Facebook „retained data about Oldham’s interactions with 88% of those crisis pregnancy center websites, linking her behavior to her Facebook profile“.
  4. Der letzte Satz in diesem die revolutionäre Recherche dokumentierenden Kapitel lautet: „As of Tuesday, Facebook still had data about Oldham’s interactions on crisis pregnancy center websites.“

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von Giphy zu laden.

Inhalt laden

Ich halte fest: Die beiden Journalisten Grace Oldham und Dhruv Mehrotra finden heraus, wie Tracking funktioniert. Ehrlich, im Jahr 2022 ist das so als ob ich in einem eigens dafür verfassten Kapitel feststelle, dass das Pedal ganz rechts ein Auto beschleunigt, wenn ich es drücke, und langsamer werden lässt, wenn ich den Fuß zurückziehe.

Okay, weiter im Text!

Facebook soll muss das Problem lösen

Es gibt noch zwei weitere Kapitel in dem Artikel. Im vorletzten – Abortion Data Collection ‚Ripe for Abuse‘ – wird vor dem möglichen Missbrauch der bei Facebook gespeicherten Daten gewarnt (Absätze 1 und 2) und auf die aus dem technischen Unvermögen von Pregnancy Centers, solche Daten zur Verfügung zu stellen, doch wieder auf die bei Facebook liegende Verantwortung gegenüber dem Schutz der Daten hingewiesen. Es folgen ein Beispiel, ein Statement und dieses, das Kapitel beendende Zitat:

Think about what you can learn from a URL that says something about scheduling an abortion […] Facebook is in the business of developing algorithms. They know what sorts of information can act as a proxy for personal data.

Und nun der Abschluss:

  1. Facebook tut nichts gegen die Nutzung seiner Technologie auf Websites, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen. (Absatz 1.)
  2. Facebook lädt weiterhin Daten von Websites, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen. (Absatz 2.)
  3. Facebook unternimmt nichts gegen den Einsatz seiner Technologie auf Websites, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen. (Absatz 3.)
  4. Facebook könnte doch die Daten besser filtern, die von Websites, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen, übermittelt werden. (Absatz 4.)
  5. Facebooks Werbesystem basiert auf der Analyse und dem zielgerichteten Einsatz von Daten, die von Websites aktiv übermittelt werden, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen. (Absatz 5. Siehe Bild oben.)
  6. Facebook sollte (strenger) reguliert werden, damit die Daten von Websites, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen, nicht analysiert und zielgerichtet eingesetzt werden können. (Absätze 6 und 7.)
  7. Facebook (und andere, große Plattformen) sollten besser reguliert werden, um dem Missbrauch der von ihnen bereitgestellten Technologie (auf Basis von Daten, die von Websites übermittelt werden, die mit dem Einsatz der Technologie gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook verstoßen) vorzubeugen. (Absatz 8.)

Das Kapitel – und somit der Artikel – wird mit einem Zitat beendet, das sich auf die großen Plattformen – also: Facebook – bezieht.

Facebook, Facebook, Facebook

Was lernen wir aus diesem Artikel? Nach der Möglichkeit einer Abtreibung Suchende geraten häufig auf Websites sogenannter Pregnancy Centers, also von ideologisch-religiösen Motiven geleiteten Instituten, deren eindeutige Policy es in den meisten Fällen ist, von der Abtreibung abzuraten. Diese Center setzen auf ihren Websites Trackingmechanismen, die personenbezogenes Onlinemarketing möglich machen, ein. Eines dieser Tools ist ein Tracking-Skript von Facebook.

Die Nutzungsbedingungen dieses Tracking-Skripts verbieten die Übermittlung von Gesundheitsinformationen an Facebook. Die einfachste Möglichkeit, diesen Nutzungsbedinungen zu entsprechen, ist, das Tracking-Skript erst gar nicht einzusetzen. Die einfachste Möglichkeit, direkt gegen die Nutzungsbedinungen zu verstoßen, ist, es auf eine Art und Weise einzusetzen, die eindeutige, personenbezogene Informationen an Facebook übermittelt. Diese Verantwortung liegt meiner Meinung nach bei den die Technologie von Facebook einsetzenden Unternehmen. Der Artikel vermittelt aber den Eindruck, dass es die Schuld von Facebook sei, dass diese Daten bei Facebook landen.

Ist es das Werkzeug, dem man die Schuld anlasten kann? Oder ist es das Unternehmen bzw. die Person, die es einsetzt? Klar ist, Facebook hat aus dem Gieren nach Klicks eine Dystopie erschaffen. Klar ist auch, dass das Unternehmen den Einsatz seiner Technologie bewirbt und, den Regeln des Kapitalismus folgend, keinen Einsatz seiner Technologie unterbindet, die ihm selbst einen Vorteil bringt, sofern das Unternehmen dabei nicht gegen Gesetze verstößt (wobei…).

Doch wo genau ist das Problem verortet, das die beiden Journalisten Grace Oldham und Dhruv Mehrotra investigativ ermittelt haben? Ist es die Tatsache, dass Facebook so funktioniert, wie es ganz offen auch nach außen kommuniziert, dass es funktioniert? Ist es der fehlende Einsatz von steuernder Gesetzgebung, die es entweder Facebook oder den leidigen Pregnancy Centers verbieten würde, diese Daten zu sammeln? Ist es das Ignorieren von Nutzungsbedingungen und das Überbordwerfen jeglichen Anstands vonseiten der Pregnancy Centers, die ausgefuchsteste Marketingmittel zur zielgerichteten Beeinflussung potentieller Kundinnen/Patientinnen nutzen?

Ich bin ja wirklich für jedes Facebook-Bashing zu haben und regelmäßige Leserinnen und Leser wissen über meine äußerst kritische Haltung zu diesem Konzern bescheid. Doch in diesem Fall geht die Rüge an die beiden Journalisten, denen es meiner Meinung nach in ihrem Artikel nicht gelingt, die eine potentiell gefährliche Technologie – im konkreten Fall sogar bedingungswidrig – einsetzenden Betreiber von Websites in die Mangel zu nehmen.

Das ist eine Verschiebung von Verantwortung. Und das ist nicht gut. Bei aller berechtigten Kritik an der von Facebook geschaffenen Dystopie.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert