Ich höre die alten Geschichten. Mehr und mehr von denen, die darin vorkommen, sind tot. Mehr und mehr akzeptiert man ihre verschiedenen Leben, ihre Argumente, ihre Vorgehensweisen, ihre Entscheidungen. Ihr Status als Zeugen der Zeit ist vorbei, der liegt nun bei jenen, die über sie erzählen. Da gibt es lustige Geschichten, traurige Geschichten, tragische Geschichten und auch solche, die so langweilig sind, dass ich lange dabei zuhören muss, wie man nach den Namen, Orten und Ereignissen sucht. Wir fahren weiter.
Wir kommen an. Noch mehr Geschichten, noch mehr Zusammenhänge, die bereits in Kontext gesetzt und interpretiert werden. Die Gegenwart und die Zukunft erdrücken die Vergangenheit. Sie lassen kaum Spielraum für Reflexion. Gerade das nötigste darf gedacht und memoriert werden. Hier der Ort, an dem Dinge entstanden sind, hier der Ort, an dem Dinge zerstört wurden. Alles spielt sich in einem kleinen Umkreis von nichtmal zwanzig Gehminuten ab. Besonders nimmt mich ein Ort mit, der sich nie verändert hat, aber Schauplatz für den Anfang und das Ende eines Lebens war. Dahinter fließt ein Fluss. Es geht weiter. Es muss weiter gehen.
Wir bleiben noch ein wenig länger. Unterhalten uns über dies und das. Es ist nicht mehr als Small Talk mit der einen oder anderen Bemerkung, die die Säulen des Verständnisses von Leben kommuniziert. Ich bemerke immer öfter, wie mein Verständnis nicht mehr so ganz kompatibel ist mit dem der Alten. Wir Jungen stellen Dinge in Frage, die die Alten akzeptiert und respektiert haben. Wir meinen, unser Schicksal besser in der Hand zu haben als sie. Letzten Endes eine Illusion. Was ihr X ist unser Y. Was ihr A ist unser B.
Klar geht es uns besser… oder doch nicht? Ist es besser, steril und abgeschottet zu leben, dafür in Wohlstand und Sicherheit? Ist es besser, nicht auf Andere angewiesen zu sein, dafür aber niemals Zuneigung und wahre Freundschaft zu erleben? Ist es besser, Bindungen durch einen Tapp aufs Display des Handys zu beenden? Wir reisen ab.
Auch am Rückweg höre ich die alten Geschichten. Sie sind froh, weggegangen zu sein. Gleichzeitig bedauern sie aber, was aus dem alten Ort geworden ist. Wir fragen uns, ob es ihn in ein paar Jahren noch geben wird. Zum zweiten Mal fällt der Satz: Machen wir das noch, solange wir können. Zum ersten Mal gibt es eine Verbindung in die Zukunft: Wenn du nicht mehr herkommst, dann war’s das. Vielleicht noch die Kinder unserer Kinder. Dann aber niemand mehr. Niemand wird mehr die beschwerliche Reise auf sich nehmen, um den Ort zu sehen, an dem alles begann. Niemanden wird das interessieren. Es weiß ja jetzt schon kaum jemand etwas darüber.
Und mit jedem weiteren Jahr wird ein Ort immer mehr zur Geschichte. Zu einer Erinnerung, die von Jahr zu Jahr mehr verblasst, bis sie nichts weiter mehr ist als eine Randnotiz mit dem Vorsatz „Ich glaube…“.