Walt Disney hat die Herausforderung, also den Zwang zur Problemlösung, dem die Charaktere der verschiedenen Geschichten unterworfen waren, um am Ende das Glück zu erlangen, entfernt und die Lerneffekte, den Sinn und Nutzen der Erzählungen damit irrelevant gemacht. Das sagt kein Minderer als J.R.R. Tolkien, der offenbar ein großer Kritiker des Umgangs Walt Disneys mit den althergebrachten Überlieferungen, allesamt Grundlagen für seine Wohlfühlmärchen, war.
Tolkien spent his career immersed in ancient languages and early medieval texts. He particularly enjoyed myth and “fairy-stories”, both of which he believed preserved truths that modern society had largely forgotten. […] The value of these fairy-stories lay not in their ability to entertain you or transport you to magical worlds, but in how they reckoned with eternal topics such as evil, suffering, and the nature of heroism. Myths […] were meant to help you confront the world. To engage with them primarily for their escapist value was to fundamentally mistake their purpose. [He believed] that well-made fantasy would point beyond itself and towards the divine. In order to point that direction, however, you first have to reckon with the evil that lies in your path. […] This meant directly engaging with the harsh realities of life […] death, fear, betrayal, greed, and war.
The Culturist
Walt Disney dürfte genau dieses alles entscheidende Element, die Möglichkeit, wenn nicht sogar Unvermeidbarkeit von Gefahr, nämlich, sowie das Aufkommen einer unüberwindbar scheinenden, gefährlichen Herausforderung de facto entfernt und die Geschichte damit in ein rosarotes Universum transferiert haben, dem es an Fülle, Substanz und somit auch Leben fehlt. Die Geschichte Schneewittchens ist ein Paradebeispiel für die tiefgreifenden Änderungen, die Walt Disney an der Storyline einer dieser Erzählungen durchgeführt hat, um am Ende den entkernten, seiner moralischen Kraft vollständig beraubten, wenn auch immer noch unterhaltsamen Plot als Zeichentrickfilm im Wohlfühluniversum wiederzugeben.
In the original 1812 Brothers Grimm version of the tale, Snow White is repeatedly hunted by her murderous stepmother. She bargains to earn her place in the dwarfs’ home, and when the evil queen is finally punished, she is forced to dance to death in red-hot iron shoes. […] In Disney’s Snow White, however, the darker elements of the original tale are replaced with songbirds, sweetness, and a kiss. […] While the story itself remains entertaining, it lacks the depth required to engage earnestly with the evils of the world. Tolkien believed that to strip this kind of story of its darker elements was to sever it from its purpose. […] Fairy-stories, as Tolkien contended, were not supposed to merely entertain or comfort, but to prepare the soul. What troubled Tolkien most, however, was not just the aesthetic change, but the deeper consequence: suffering had been made optional. There was no cost for redemption, and no consequence for evil. It all made for a fantasy with the edges dulled and the moral center hollowed.
The Culturist
Eine starke Aussage, die man bei The Culturist da gefunden hat, aber nicht von der Hand zu weisen. Disney-Märchen fühlen sich leer und irgendwie falsch an. Zu viele Zufälle führen die Charaktere ans Glück, die Anzahl der Gegner ist im Verhältnis zur Anzahl der Unterstützer minimal. Die ganze Sache wirkt wie ein Spaziergang durch eine dem Eskapismus gewidmete Traumwelt.
Auf der einen Seite mag das unterhaltsam und „für Kinder geeignet“ sein (das ist als imaginierte grenzzieherische Maßnahme zu sehen und weniger als dem Attribut „lehrreich“ zuzuschreibend), gleichzeitig aber geht, und da bin ich ganz bei der J.R.R. Tolkien-Interpretation, ein Element verloren, das ich persönlich nur aus Büchern (im Gegensatz zu Filmen) kenne, weil ich dort mit den ungefilterten, für den kommerziellen Erfolg oder die weltweite Vermarktung nicht aufbereiteten Versionen von Geschichten konfrontiert wurde. Diese in den Büchern vermittelten Geschichten haben mich nachdenklich gestimmt, zur Reflexion motiviert oder in irgendeiner Form berührt. In anderen Worten: sie haben mich geprägt. Wenn ich hingegen an die verschiedenen Geschichten denke, mit denen ich vermittels Disney konfrontiert wurde, dann fühlen sie sich jetzt hohl und leer an und haben sich eigentlich auch schon damals ebenso angefühlt. Nach einem Disney-Film habe ich mir immer gedacht, dass das eben nette Unterhaltung war, bestenfalls, stark fokussiert auf humoristische Elemente, Musik und Gesang, aber mit einer Herausforderung in jedweder Form wurde ich nicht konfrontiert. Ich frage mich, wie das Kinder heute sehen. Ob man ihnen anmerkt, dass die Geschichte hohl und leer und lediglich dem Verkauf von Schulrucksäcken, Federpenalen oder gebrandeten Stiften dienlich ist. Wovon erzählen Kinder? Von den Erlebnissen, die sie herausgefordert haben, oder von der milchigen Geschichte Schneewittchens?
Der deutsche Kulturkreis wird in Memes gerne aufs Korn genommen, in dem von Gute-Nacht-Geschichten, die man deutschen Kindern vorliest, die Rede ist, in denen Finger abgeschnitten und Menschen ausgehungert werden. Erst nach einer ordentlichen Portion Gewalt geht das deutsche Kind zu Bett, ist das lachhafte und erwähnenswerte Element dieser Memes. Tatsächlich steckt da aber die tolkiensche Kritik mit drin. Selbst vor dem Zubettgehen erinnert die eine Art der Geschichtenerzählung einen (jungen) Menschen an die Herausforderungen, aus denen das Leben besteht, und an die (heroischen) Taten, die ein Individuum vollbringen muss, um das Gute zu erreichen und im Anschluss in die Welt tragen zu können. Ohne Fleiß kein Preis, heißt es in einem deutschen Sprichwort. Nicht viel anders verhält es sich hier.
Diese Abhängigkeit von Gut und Böse, Herausforderung und Bewältigung ist ein immerwährendes Spiel, das sich immer und immer wiederholt. Wendet man diese Lesart an, so entsteht gewissermaßen Verständnis für das Böse, für die Herausforderung, für das, was es zu bekämpfen gilt. Ohne die Herausforderung gibt es keinen Sieg. Ohne das Böse kann sich das Gute nicht abgrenzen und pervertiert letzten Endes in eine Katastrophe.
Ich bin eindeutig im Team Tolkien.