Mütter und Töchter

Wir lieben unsere Mütter meist über alles. Aber manchmal sind es die Mütter, die (vor allem) Töchter am Heranwachsen hindern.

Von Vätern und Söhnen liest und hört man andauernd, was aber mit ihrem Pendant, den Müttern und ihren Töchtern? Während ich täglich meinen Weg in und aus der Stadt mache, begegnen mir viele Mutter/Tochter-Kombinationen in verschiedensten Altersgruppen. Dazu zähle ich nicht Mütter, die ihre Töchter beim Einkaufen begleiten oder sie irgendwo hinbringen, sondern ausschließlich Mütter und Töchter, bei denen die Tochter nicht einen Dritten – den Partner – als Bezugsperson ansieht, sondern die eigene Mutter. Und diese Kombination gibt es erschreckend häufig, selbst unter solchen Menschen, die sich das nicht eingestehen würden.

War das „Hotel Mama“ bislang Kampfbegriff für Söhne, die endlich den eigenen Haushalt angehen sollten, so hat sich daraus ein geschlechterübergreifender Begriff gebildet, dessen Handelsimperativ eben auch die Töchter dieser Stadt ansprechen soll. Doch allzu oft sind sie sich gar nicht bewusst, dass gerade der Zustand der Rundumversorgung durch die Mutter die süße Falle ist, in der sie zugrunde gehen.

Jedes Abhängigkeitsverhältnis (mit Ausnahme der Kindheit) ist unter normalen Bedingungen zu großen Teilen selbstverschuldet, hauptsächlich durch das vorsätzliche Verkennen der eigenen Situation, daraus die Frage im Verhältnis Mutter und Tochter: Wie kommt es – und – wann kommt es, dass die Tochter aus der kindlichen Abhängigkeit zur Mutter in eine soziale Abhängigkeit rutscht, die selbstverschuldet ist? Oder anders: Wann und wieso kann eine Tochter den Absprung versäumen? Caroline Eliacheff und Nathalie Heinich benennen das Versäumnis des Absprungs als „Identitätsproblem durch das Fehlen des Dritten“, einer Bezugsperson, an der sich die Tochter außer an der Mutter noch orientieren kann.

Auf den ersten Blick scheint es für eine Tochter leicht, sich mit seiner (sic!) Mutter zu identifizieren, denn sie ist ja ein Mensch, der dasselbe Geschlecht hat wie sie. Doch es ist komplizierter. Denn zunächst braucht ein Mädchen die Identifikation mit der Mutter, um sich einen eigenen Bezugsrahmen zu schaffen, und später dann muss es sich von ihr abgrenzen, um zu sich selbst, zu seiner (sic!) eigenen Persönlichkeit zu finden.

…und diese Abgrenzung erfolgt über eine dritte – männliche! – Person. Dies kann entweder der Vater oder ein Freund sein, an dem die Tochter den eigenen Bezugsrahmen festigen und anwenden kann. Gibt es diesen Dritten nicht, so wandelt sich das Verhältnis von Mutter zu Kind zwischen Mutter und Tochter in eine platonisch-inzestuöse Beziehung, die sich für die Tochter aus der Umwandlung der Orientierung vom Dritten zur Mutter hin als einzige Möglichkeit der Anerkennung anbietet. Resultat dieser Umorientierung? Aufgabe der Eigenverantwortung, daraus resultierend schwere Störungen im sozialen Umfeld, die sich in Partnerschaften und sexuellen Kontakten, beim Fortgehen und bei Hobbies bemerkbar machen.

Die Zuneigung eines Partners wird mit Unverständnis abgetan, die als aufdringliche Sentimentalitäten empfundenen Annäherungen werden als die „Schuld“ des anderen am Scheitern einer Partnerschaft interpretiert, nicht als eigene Unfähigkeit, sich auf die Beziehung einzulassen. Aber auch das genaue Gegenteil kann eintreffen. Der Partner ersetzt die Mutter vollständig und wird innert kürzester Zeit in eine Rolle gezwungen, die eine Perversion jedweder Partnerschaft hervorruft: Der zum Beispiel sexuell attraktive Partner möchte von der „neuen Mutter“ auch als „Kind“ behandelt werden.

Solange die Mutter im familiären Kreis anwesend und dominant ist, ist es die platonisch-inzestuöse Beziehung, die zu funktionieren scheint. Andere Beziehungen sind, sofern überhaupt vorhanden, kurzlebig, auf die sexuelle Praxis reduziert und in ihrer Vertiefung negiert durch das (unbewusste) Argument des Eindringens eines Fremden in den persönlich-privaten Bereich, genau den Bereich, der das Spielfeld für funktionierende Partnerschaften darstellen sollte.

Die starke Fixierung auf Tätigkeiten außerhalb dieses persönlich-privaten Bereichs – Ausgehen mit Freunden, sexuelle Kontakte, Hobbies, … – erfolgt ohne eigenes Wertesystem. Lediglich die medial anerkannten Stereotypen sind Möglichkeiten der eigenen Wunsch-Ausbildung mit stark minimierten eigenen Vorstellungen, weil das eigene Bezugssystem fehlt und Vorlieben niemals ausgebildet werden konnten. Kommt es zu Fehlentscheidungen, werden sie als Schwäche des Gewählten angesehen: War der Samstagabend kein Erfolg, so lag das an der schlechten Laune der Anderen, war der Sex nicht zufriedenstellend, so war auf jeden Fall der Partner schuld, machen die Hobbies keinen Spaß mehr, hat sich das Umfeld geändert. Wird das jedoch angesprochen, ist Aggression die Lösung auf die Unfähigkeit konkrete Gründe zu nennen. Ausweichen statt Diskussion. Wie im Kindesalter.

Situationen, die normal erscheinen mögen, so lange die Tochter noch Kind ist, offenbaren ihren pathologischen Charakter plötzlich, wenn sie erwachsen wird. Sie ist dann nämlich nicht fähig, eine Frau zu werden und ihr eigenes Leben zu führen.

Das allgegenwärtige Problem des Fehlens eines Wertesystems erklärt auch, warum sexuelle Kontakte hier als außerhalb des persönlich-privaten Bereichs angeführt werden. Was zuerst als völliger Gegensatz scheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als logische Folge der platonischen Liebe zur Mutter. Da der Lustgewinn durch den eigenen Körper niemals mit der Liebe zu einer Person – der Mutter – gleichgesetzt wurde, wird der eigene Körper aus dem Bereich der als echt empfundenen Liebe entfernt. Er wird lediglich als Werkzeug für den triebhaften Lustgewinn mit anderen eingesetzt. Die Reaktion des Umfelds auf die rein sexuellen Aktivitäten ohne jeglichen erkennbaren Beziehungswunsch bestätigt die innere Wahrnehmung der Mutter-Tochter-Beziehung als einzig ehrliche. Zumindest in Österreich ist man mit diesem Problem oder diesem Schluss konfrontiert.

Sieht man sich mit den Auswirkungen des Problems eines fehlenden Dritten in einer Mutter-Tochter-Beiziehung konfrontiert, ist dann die Frage nach dem Wann noch von Gegenstand? Kann man einen Schuldigen ausmachen, dem man die Versäumnisse in der Entwicklung der Tochter zuschreiben kann? Das sind offene Fragen, die auch Caroline Eliacheff und Nathalie Heinich nicht beantworten. Ihr Lösung: Von drei Muttertypen sind es zwei, die diese Fehlentwicklung der Töchter verursachen können. Einerseits gibt es die „allzu mütterliche Mutter“, die ihre eigenen Phantasien in die Tochter hineinprojizieren möchte…

Es ist die typische Figur der sehr mütterlichen, sehr präsenten „Mamma“. Im Leben (der) Tochter hat der Vater überhaupt keinen Platz, weil die Mutter das Kind so vereinnahmt. Nachdem sie den Vater vertrieben hat, benutzt die Mutter unter dem Vorwand der mütterlichen Sorge das Kind, um ihre eigenen Erfolgsphantasien in es hinein zu projizieren.

Auf der anderen Seite der Schuldigen steht der Typ einer Mutter, die „mehr Mutter als Frau“, denn ihr fällt es schwer…

zu akzeptieren, dass die heranwachsende Tochter ihr eigenes Leben lebt. Auch hier fehlt der Vater. Die Tochter leidet unter dieser Situation, umso mehr als sie der Mutter, die immer sanftmütig und für sie da ist, nicht viel vorwerfen kann.

Der dritte Fall von Muttertypus ist der schlimmste Fall, der nämlich,

in (dem) mittlerweile erwachsene Töchter immer noch unter der Fuchtel ihrer Mütter stehen. (Die Mutter) spricht (der Tochter) jegliche Qualitäten ab und sorgt, indem sie die Tochter zu einem Nichts degradiert, dafür, dass eine Rivalität zwischen beiden gar nicht erst entstehen kann.

Der Schluss aus der Typisierung? Es scheint das geringste Übel zu sein, eine Mutter zu haben, die „mehr Frau als Mutter“ ist, denn in diesem Fall hat die Tochter zumindest das Recht, sich über sie zu beklagen…

Eine Tochter, die unter einer allzu liebenden Mutter leidet, wird dagegen unter Umständen einfach nur still daran verzweifeln, dass sie nicht versteht, was mit ihr geschieht. Wie sollte sie sich auch darüber beklagen, dass sie geliebt wird?

Die Antwort des lesenswerten Buches der beiden Autorinnen „Mütter und Töchter. Eine Dreiecksbeziehung“ kritisiert die Perzeption des Begriffs Liebe. Zu häufig wird der unbedingt positive Charakter dieses Gefühls betont, zu sehr die negativen Nebeneffekte verschwiegen, völlig die ihr innewohnende zerstörerische Kraft negiert, die sich nicht nur auf den Liebenden selbst, sondern auch auf seine Mitmenschen – sogar auf die eigenen Kinder – auswirken kann.

Erst wenn wir uns von der Vorstellung frei machen, dass der Begriff „Liebe“ zwangsläufig immer positiv besetzt ist, können wir uns auch an den Gedanken gewöhnen, dass es unter den verschiedenen Beziehungsformen, die wir unter diesem Begriff subsummieren, ebenso gut destruktive wie konstruktive gibt.