Wenn ein User auf X den Namen „hoe_math“ (HM) trägt, sich in seiner Biografie als „History’s manliest and most captivating hilarious sex genius“ beschreibt und einen Artikel (auf X, wo sonst?) verfasst, der mit dem Satz beginnt „Modern people think they’re too smart for religion. They’re not„, dann lese und kommentiere ich ihn natürlich, und stelle fest, dass es eine Lesart von Religion gibt, der ich etwas abgewinnen kann, weil sie denen, die sich selbst überschätzen abfordert, sich in Bescheidenheit zu üben. Also, hier HMs Beitrag.
HM argumentiert, Religion sei nichts anderes als die vereinfachte Darstellung allgemeiner, grundsätzlicher, moralischer Prinzipien in Form leicht verständlicher Geschichten mit einfach zu befolgenden Handlungsanweisungen. Diese Geschichten sind bewusst einfach und leicht nachvollziehbar verfasst, damit auch sehr einfache und ungebildete Menschen sie und die darin verpackten, moralischen Aussagen verstehen können.
Das Problem sind Menschen mit Halbwissen. Sie sind zwar schlau genug, um zu verstehen, dass diese Geschichten natürlich nur erfunden sind, und sie interpretieren die moralischen Aussagen und Handlungsanweisungen als Manipulation. Ihre Begründung: Was man nicht mit eigenen Augen sehen kann oder was nicht von einer vertrauenswürdigen Quelle bestätigt wurde, gilt nicht. Somit sind die Anleitungen, die Religion bereitstellt, nichtig, weil ja die sie bedingenden Umstände nicht nachvollziehbar sind. Die persönliche Freiheit geht der manipulativen Einschränkung vor.
Was die mit Halbwissen allerdings nicht verstehen, ist, dass die sie in ihrer Freiheit einschränkende Religion von Menschen geschaffen wurde, die als die intelligentesten ihrer Zeit galten, und dass die der Religion innewohnenden Regeln, Einschränkungen und Handlungsanweisungen aus Erfahrungen, Erlebnissen und Umständen entstanden sind, die die meisten Menschen nie verstehen werden.
Und hierin liegt das Problem: Wenn es nämlich etwas gibt, mit dem Halbwissen nicht zurecht kommt, dann das Eingeständnis, etwas nicht zu verstehen. Es gibt nur „Wissen“ oder „Kennen einer vertrauenswürdigen Quelle“. Ein „Ich verstehe es nicht“ gibt es nicht. Und so verweigert das Halbwissen, sich den einfachen, moralischen Prinzipien, die Religion transportiert, zu unterwerfen, weil es nicht unterscheiden kann, wer Religion benutzt, um ihnen, den Menschen, zu helfen, oder wer sie nutzt, um sich selbst damit zu bereichern. Somit bevorzugen es die mit Halbwissen, ihre eigenen, moralischen Regeln aufzustellen, die am Ende eigentlich nur bedeuten, dass sie machen, was sie wollen.
Dass es das gibt, haben diejenigen, die Religion erschaffen haben, schon damals gewusst. Sie wussten, was es bedeutet, wenn Halbwissen gegen einfache, moralische Regeln rebelliert und dieses aus Unverständnis abgeleitete Aufbegehren als „Wissenschaft“ tarnt (in Wirklichkeit nichts anderes als Materialismus). Wie konnte ein zu großes Abweichen von allgemeingültigen, moralischen Regeln aber vermieden werden? Die, die Religion erschaffen haben, bedienten sich einfacher Mathematik, um den desaströsen Zuständen, die sie im Aufbegehren des Halbwissens gegen einfache, moralische Prinzipien vorhersahen, entgegenzuwiren. Sie würden Religion in so einfache Geschichten verpacken, dass die schiere Zahl einfacher Menschen ohne Halbwissen die Umstände und den Alltag so stark beeinflussen würde, dass die viel geringere Zahl derer mit Halbwissen gezwungen wurde, sich zu fügen.
So gelang es den intelligenten (und guten) Menschen, die wenig intelligenten (und guten) Menschen einzusetzen, um die mit Halbwissen ausgestatteten (und nicht ganz so guten) Menschen im Zaum zu halten. Gelegentlich verkehrte sich dieser Zustand und eine Gruppe von intelligenten (aber eben nicht guten) Menschen verhalf den halb-intelligenten (potentiell bösen) Menschen, ihren Einfluss auf Kultur und Gesetzgebung zu verstärken, aber das führte letztendlich immer zu desaströsen Zuständen.

Ich denke, wir alle können, unabhängig davon, was wir von Religion halten, bestätigen, was HM da schreibt. Immer gibt es solche, die sich für schlauer halten als die, die Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte lang bestehende Regeln verfasst haben. Solche, die Regeln herausfordern, weil sich die Umstände, die zu eben diesen Regeln geführt haben, sich für sie außerhalb des Denkmöglichen befinden. Es macht schon Sinn, dass sich das, was wir Bildung bezeichnen, das Verstehen alter Meister voraussetzt, bevor es uns in Bereiche führt, in der das eigenständige Denken gefördert und herausgefordert wird. (Das gilt übrigens nicht nur für die der Kunst fernen Gebiete, sondern ebenso – siehe zum Beispiel die Entwicklung von Pablo Picasso – für die Kunst selbst.)
In anderen Worten: Zuerst Wissen sammeln und respektieren, bevor man es kritisiert und herausfordert. Eine Tugend, möchte ich fast schon sagen, die allgemeine Gültigkeit hat, aber so oft nicht befolgt wird und zu „desaströsen Zuständen“ führt, die in absurden Lebensmodellen endet, in falsch verstandener Moral, in Enttäuschung durch und durch. Es ist oftmals fast schon schmerzhaft, den Argumenten gescheiterter Individuen zu folgen und währenddessen festzustellen, dass sie nicht nur die Konzepte, die sie nun nutzen, um ihre Lebenslüge zu festigen, nicht zur Gänze verstanden haben, sondern sogar einzelne Begriffe falsch verwenden, in dem sie etwas in sie hinein interpretieren, was sie gar nicht beinhalten. Oder in dem sie den Begriff mitsamt seinen Auswirkungen auf diejenigen, die zuhören, nutzen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Präzision nicht selten über Verständnis oder Unverständnis entscheidet. Wenn für jegliches persönliches Versagen der Feminismus herhalten muss, fürs berufliche Scheitern die alten, weißen Männer, und für irgendwelche anderen Probleme, Veganer oder das Gendern, dann ist es das Desaster, vor dem diejenigen, die einfache, allgemeingültige Regeln aufgestellt haben, uns bewahren wollten.
Heißt das nun, dass wir uns frohlockend und ohne Kritik auf die messianischen Heilsversprechungen populärer Persönlichkeiten verlassen und ihnen kopflos folgen sollen? Dass wir uns auf aus der Luft gegriffene, als Lifestyle getarnte Erlösungsvorstellungen verlassen, auf die Inhalte unserer Kirchenlieder Podcasts hören und den Priestern Influencern (in jedweder Form) folgen sollen? Dass der Messias Reviewer auf YouTube uns mehr überzeugt als ein Jahrhunderte überdauertes Sammelwerk moralischer Regeln? Natürlich nicht, denn sie sind die in HMs Beitrag erwähnten, mit Halbwissen Ausgestatteten, deren Vorstellungen und Ideen letztendlich im Desaster enden. Was es aber bedeutet, ist, dass wir uns die Frage stellen sollten, ob es nicht bessere Quellen für das, was wir Wissen nennen, gibt. Ob es nicht überlieferte Gedanken gibt, die den gegenwärtigen in nichts nachstehen, ja, ihnen sogar vorzuziehen sind, da sie mit ihrer Präzision die Zeit bereits überdauert haben, wohingegen die modernen Versionen (ohnehin des immer selben) diesen Beweis erst antreten müssen (und oftmals daran scheitern).
Vielleicht tut es gut, wenn wir uns alle ein wenig in Demut üben und uns schlichtweg eingestehen, dass wir nicht diejenigen sind, die die Welt verändern werden, in dem wir revolutionäre Ideen findiger Individuen über Althergebrachtes stellen, das wir in seiner Qualität gar nicht verstehen können, weil wir uns nicht darum bemühen, es verstehen zu wollen. Das Wissen liegt uns zu Füßen und ist praktisch überall kostenlos verfügbar. Aber die Stimme des Intellekts ist leise und so gar nicht populär.