Sonntagsarabesken #103

Fahrt durch die sonnenbeschienenen Hügel, die Straße begleitet von einem Spalier knorriger Obstbäume, scheinbar in ewiger windschiefer Verbeugung gefangen. Radfahrer pflücken Kirschen und Äpfel, die Räder an die Grabenböschung gelehnt. Das Auto gleitet durch die Kurven, taucht in die schmale Schneise zwischen eng stehenden Fichten, deren Wipfel das Sommerlicht verschlucken. Weiter vorne wie in einem Fensterrechteck ein Himmelsausschnitt. Wolkenflocken auf blauem Knitterpapier. Er spürt eine Hand auf seinem Oberschenkel; vertraute Berührung, in diesem Augenblick ganz selbstverständlich, und doch an Tausende Fäden des Gewesenen geknüpft, so dass der Kontakt zwischen Haut und Haut einen Bildersturm entfacht, der vor der Windschutzscheibe zu wirbeln beginnt. Un di felice, eterea, mi balenaste innante… Eines glücklichen Tages bist Du, Himmlische, mir wie ein Flammenglühen erschienen – und seit diesem Tage lebte ich gefangen in unermeßlicher, bis dahin ungekannter Liebe… Dunkelroter Samt einer Opernloge; Freitag Abend; La Traviata; zwei Schultern, die sich leicht berühren, in stillem Einverständnis, das der Undenkbarkeit anderer Möglichkeiten entsprungen ist. Einverständnis, das Sicherheit ausdrückt. Jede der beiden Schultern lehnt sich mit Zuversicht an die andere. Die Zukunft ist für die vereint Lebenden nichts weiter als der Himmelsfleck am Ende der Waldschneise, blaue Freude, durchsetzt mit filigranen, unter einem einzigen Fingerschnippen zerstäubenden Rahmwölkchen. Glück. Was ist Glück? Das. Das war Glück. Er dreht sich im Kreis, in schnellem Flug über Wiener Ballsäle, Schneeflocken wehen gegen die hohen Fenster, über das bernsteinfarben beleuchtete Wasser des Alten Hafens von Stockholm, den die Schattenbilder gemeinsam umwandern, als sei es gestern gewesen, er taumelt zurück in das toskanische Zimmer mit den fast schwarzen Dachbalken, unter denen sie sich in jugendlicher Unbekümmertheit geliebt hatten, wieder auftauchend in den Rosengärten von Schönbrunn, im Angesicht noch nicht geöffneter Blüten, ungeborener Schönheit, die sich nur ahnen aber nicht fühlen oder gar riechen ließ, umgeben von einer zweifelhaften weil schmerzvollen Stille, einer Ruhe, die ihm den Magen umgedreht und das Innere nach außen gekehrt hatte. Wieder ein gemeinsamer Weg, diesmal hinauf auf den Hügel mit dem Blick über die gesamte Stadt, die sich in abgasgrauem Dunst vor den frisch Getrennten erstreckt. Noch scheinen Millionen winziger Eiskristalle das schwache Frühlingslicht zu brechen. Noch hat der Winter seinen Griff nicht ganz gelockert. Seine Augen verschleiern sich; dann das betretene Schweigen, das sich in solchen Augenblicken einzustellen pflegt. Und der Griff ans Lenkrad, während die letzte Kurve vor der Abzweigung zur Dorfstraße genommen wird. Bewegungen, die leicht und routiniert gelingen; oft geprobt, unbewußt als Essenz des Lebens inhaliert, zu Verlängerungen des eigenen Atmens geworden. Das läßt sich nicht abstellen. Nie. Seine Hand liegt jetzt wieder auf dem Schaltknüppel. Fünf Finger wandern ameisenhaft seinen Oberarm hinauf, fallen über die Schulter in seinen Nacken und streicheln sanft die dort plötzlich aufgeblühte Gänsehaut. „Freust du dich auf das Wochenende?“ fragt sie. Ein letztes Mal wirft er einen schnellen Blick zurück auf die blutrot angestrahlten Wolken hinter dem Rathausturm, das Pärchen an der Stockholmer Hafenpromenade, das Wiener Winterpanorama, die Dachfenstergespräche und trockenen Martinis, die zerwühlten roten Laken, spanischen Staub, griechisches Meeresrauschen… Dann schließt er den Deckel über all diesen Erinnerungen. Er gibt Gas, dreht sich zu ihr hinüber, mit strahlendem Lächeln, und sagt: „Sehr!“