Sonntagsarabesken #109

Traumbild, gesehen in wachem Zustand: Ein prächtiges Gewirr Tausender Schmetterlinge; der Mond, überzogen mit Silberfäden, läßt lange Schatten in den Alleen und Promenaden wachsen. Nachtrosen heben ihre Köpfe und öffnen die rubinroten Lippen. Die Musik setzt ein; das Orchester thront auf einer Empore über den Kaskaden der Fontäne. Zwischen dem sprühenden Wasser defilieren vor seinem verschleierten Auge Damen in brokatenen Roben und Herren mit hohen gefältelten Krägen nach spanischer Art zu einer Sarabande, behandschuhte Hände werden grazil gehoben, venezianische Stöckelschuhe unter goldbestickten Säumen leicht vorgeschoben. Kühle Porträts junger adeliger Schönheiten sieht er vor sich, wie in einem Daumenkino. Eine hochmütige Laura, eine geistreiche Beatrice, eine traurige Helena. Goldene Bäume mit zart getriebenen Blättern schmücken den Rand des Marmorbrunnens. Gelächter und Gläserklirren. Es wird Feuerwerk geben. Mit den Augen durchstreift er die Masse. Auf der Suche nach der Verlorenen. An jedem einzelnen Gesicht bleibt er hängen, unsicher von Augenblick zu Augenblick. Hat er schon einmal gesehen, was er doch zum ersten Mal zu sehen glaubt? Sind es bloße Ähnlichkeiten oder doch Übereinstimmungen? Ein und dieselbe Melodie, nur anders interpretiert? Im Traum wendet er sich ab von dem Bild überquellenden Vergnügens. Erschöpft und benommen in die Wirklichkeit zurück torkelnd. Er stürzt in sein Bett, aus den Wolken, sein Atem geht hastig, rasselnd. Dann denkt er, fast ohne Regung: Es ist nicht so einfach. Dieser Satz hängt tausendmal am Tag an tausend verschiedenen Orten (wie man so sagt) im Raum, zerschneidet oder erschafft die Stille, je nachdem, provoziert Achselzucken oder mitleidiges Lächeln oder Wutausbrüche oder Verzweiflungstränen. In seinem Kopf hatte dieses „Es ist nicht so einfach“ derart an Bedeutung gewonnen, dass man ihm beinahe den Charakter eines Leitmotives hätte geben können. Was war denn nicht einfach? Kurz gesagt: Alles. Die Bindung, die Liebe und sämtliche daraus resultierende Spannungsfelder. Minenfelder; er lächelte unwillkürlich. Tatsächlich fühlte er sich ausgesetzt auf einem mit Sprengladungen übersäten Acker. Vor und neben und hinter ihm lagen die Knochen und Fleischfetzen seiner Vorgänger, seiner Mitstreiter, die zerschmetterten Wirbelsäulen, die aufgebrochenen Schädel. Das war die Richtstätte, über der die Raben der verlorenen Lieben kreisten. Die Eisbären am Polarkreis waren in der Lage, wie er einmal in irgendeiner Dokumentarserie gesehen hatte, zwischen den Gebeinen ihrer Opfer ruhig zu dösen, zu kopulieren, Junge zu gebären, mit einem Wort: ihr Leben zu fristen. Er, das wurde ihm bewußt, befand sich in einer ähnlichen Situation. Und er glaubte jetzt auch, die Eisbären besser verstehen zu können: Sie sahen keinen Ausweg, oder einen, den zu wählen ihnen zu viel Anstrengung abverlangen würde (zum Beispiel die Flucht über das Eis, das offene Meer zu einer anderen noch unbesudelten Insel), also blieben sie dort wo sie waren, selbst wenn es sich dabei um einen Ort des Schreckens und des allgegenwärtigen Todes handeln mochte. Illusionslos. Traumlos.