Sonntagsarabesken #124

Ich schreibe gegen die Panik an. Die Panik, die Du mir bereits mehrmals verboten hast. Verbote wirken bekanntlich nicht, schieben das Wesentliche nur kurz aus dem Blickfeld, treten es in die weiche Oberfläche der gelebten Tage. Dort wühlt und raschelt es weiter, immer stärker, und bricht irgendwann einmal wieder hervor. So wie jetzt. Gestärkt und wütend. Es gönnt mir nicht einen Moment der Ruhe. Bilder rasen in schneller Folge durch mein Blickfeld; ich kann nicht sagen, woher sie kommen oder warum das so sein muß. Es ist einfach. Das Warten ist die Hölle. Es läßt sich durch nichts abkürzen oder in seiner schmerzhaften Intensität mildern, durch nichts überspielen oder betäuben, bloß kurzfristig, und solch starke Narkotika wären unzulässig. Einige Zeilen in Deiner Handschrift gefunden, gelesen. Die Zeiten überschneiden sich, genau wie die Gefühle. Es ist beklemmend, wie ähnlich unser beider Verstand funktioniert, selbst getrennt von einander. Bilder, auf denen Du glücklich wirkst, verschwommene Versionen einer Zeit, die ich nie erlebt habe. Dem stelle ich unsere gemeinsamen Photos gegenüber. Welches Lächeln ist echt und welches ist künstlich? Welche Zufriedenheit ist wahr und welche bloß gespielt? Was bin ich in dieser scheinbar willkürlichen Aneinanderreihung von zufällig gewählten Männern? Kein leeres Gefäß, keine erste Beobachtung, keine unversehrte Manuskriptseite; ich war es nicht gewohnt, kategorisiert zu werden. Ich war es nicht gewohnt, Teil eines unendlichen Vergleichs zu sein. Meine Arme gegen dunkle andere, die sich um Deine Schultern legen. Meine Hände gegen helle andere, die Deine Haare zerwühlen. Ich selbst gegen eine stumme und schwarzgesichtige Armee von Fremden. Wenn ich glaube, dass Du jetzt, schon in der nächsten Minute, aus Deinem Zimmer kommen und mir die ganze Angst mit einem einzigen Kuß nehmen könntest, so ist das bloße Hoffnung. Blauäugig. Doch vielleicht meine einzige Chance, dem Käfig, den ich mir gerade selbst zu bauen begonnen habe, zu entkommen. Draußen, jenseits der Mauern, geht das Leben weiter. Die Stadt gibt die gewohnten Laute von sich, ihre weiten Räume und Adern sind von Betriebsamkeit erfüllt, Straßenbahnen, Busse, Autos schieben sich durch die verästelten Gefäßnetze, Menschen eilen von hier nach dort, kein einziger herausgehoben aus dem anonymen Heer von Darstellern, die unseren Alltag bilden. Allein mich mußtest Du mit Deinem Finger berühren, mich verzaubern, mir diesen besonderen Platz an Deiner Seite zuweisen, der mich jetzt, getrennt von Dir, vollkommen um den Verstand bringt. Wie ein Tiefseetaucher fühle ich mich, eingezwängt in den Druck der Wassermassen, ich kann nicht sprechen, nicht um Hilfe schreien, mich kaum bewegen, in ein stählernes Korsett geschnürt, in den Panzer meiner Gefühle eingeschlossen. Ich habe sie Dir geschenkt, Du hast sie anprobiert wie ein neues Kleid. Bei Deinem Abschied hast Du sie zurückgelassen. Eine leere Hülle, die ich hinter Dir vom Boden aufhob. Sorgen. Angst. Wahnsinn. Sie brechen durch die Wände und strecken ihre Klauen nach mir aus. Sag mir: Wer bin ich für Dich?