Sonntagsarabesken #127

Sie geht das Ufer entlang, langsam, die frische vom Wasser aufsteigende Luft atmend. Sie achtet auf das kleinste Geräusch, spürt, wie sich ihre Lungen füllen, fühlt sich stark, unverletzbar, an diesem verzauberten Ort, der sich seit ihrer Kindheit nicht verändert zu haben scheint. Bei den großen Granitfelsen, die sich wie Schildkrötenpanzer aus der glitzernden, wellenlosen Fläche des Sees erheben, bleibt sie stehen, zieht Schuhe und Socken aus und klettert die Böschung hinab. Zur selben Zeit schlägt eine andere Hand, eine Männerhand, unter dem Schatten einer alten Pinie ein kariertes Notizbuch auf. Bleistift, in enger mäandrierender Schrift: Die Tage vergehen so gleichförmig und unaufregend, nur Du bist in meinen Gedanken, nur Dich sehe ich vor Augen, wenn ich zu träumen beginne, bei hellem Sonnenschein. Ich kämpfe mich weiter durch die Zeit, obwohl sich mein Denken an Deinen Lippen verliert, tausende Abzweigungen nimmt, sich auflöst unter Deinem Lächeln und Deinem Blick, der aus einem anderen Jahr, aus einer fernen Stadt bis hierher zwischen die Hecken der Borghesischen Gärten dringt. Im nächsten Moment berührt ihre nackte Sohle den von der Sonne gewärmten Stein. Sie balanciert vorwärts, auf das Wasser zu, dem unsichtbaren, kristallenen Seil sanft folgend, dessen Spur wohl bis hinter den Horizont reicht. Sie spürt seine Hände auf ihren Schultern, das Gras auf ihrem Rücken, die Kühle, als sein Schatten sie völlig einhüllt, die Wärme, als ihre Münder sich berühren, die Hitze, als ihre Körper sich umschlingen. Wie lange ist es her? Monate? Jahre? Die Zeit scheint rückwärts zu laufen. Sie tastet sich den Felsen entlang. Die Schönheit des Sees, des Tages, der Erinnerungen überwältigt sie. Hier möchte sie bleiben. Für immer. Gleichzeitig steigt Trauer in ihr auf. Und Wut. Dass sie diesen traumhaften Ort verlassen, ihr Leben geändert, ihre Liebe weggeworfen hat. Die Berührungen sind so flüchtig wie schnell wandernde Schatten. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Die Bilder der glücklichen Zeit und sein Gesicht verblassen. Doch das feste, warme Gefühl unter ihren Sohlen bleibt. Er wandert die Flanke des Pincio hinab zur Piazza del Popolo. Er wird zu Fuß nach Hause gehen. Zuhause? Wo ist das schon? fragt er sich. Niedergeschlagen. Ihr geisterhaftes Lächeln sitzt ihm im Nacken. Er wird es nicht mehr los. Mitternachtsstunde, ein später Wintertag. Ausweichende Blicke und Zigarettenrauch, Klaviermusik und unerbittlich tickende Uhren. Zuhause: Das ist der Ort, an dem man für immer glücklich werden könnte. Dies beschließt er, während seine Schritte entschlossener werden. Schon im nächsten Augenblick ist das zarte Gespenst abgeschüttelt. Er ist allein. Beide wissen noch nichts von einander. Doch jeder ahnt auf seine Weise, dass es nur noch ein kleiner Schritt sein würde. Bis zur großen Liebe.