Sonntagsarabesken #140

Ein schwarzer Punkt zwischen den tief liegenden kleinen Augen der kühn gekerbten, umschatteten Fassade; kaum bewegt er sich, das schmale Gesims entlang balancierend, und noch hat keiner der tief unter ihm dahin eilenden oder in der Straßenbahn sitzenden oder sich an den Tischen des Stehcafé unterhaltenden Menschen ihn bemerkt. Spitz ragt der gewaltige Klotz in den Vormittagshimmel. In dem Moment, als der rechte Fuß des jungen Mannes, in einem handgenähten Lederschuh, Qualitätsanfertigung, Rue du Faubourg Saint-Honoré, den Fensterrahmen überschreitet, zerreißt der dichte Vorhang bleigrauer Wolken, und eine grell weiße, gnadenlose Sonne taucht den Kulturpalast in unwirkliches Quecksilberleuchten. Im Café ist der Radioempfang miserabel. Die Unterhaltungsmusik geht in sonores Rauschen über. Keine Nachrichten. Stille. In Poznań verdunkelt der Rauch von Brandsätzen die Sonne. Menschen fliehen vor in alle Richtungen abgegebenen Schüssen. Transparente fallen in den Staub. Blut. Schreie. Verhaftungen. Schläge. Tränen. Flammenzungen lecken an der Flanke eines mitten auf der Straße stehen gebliebenen Panzers empor. Ein Soldat beugt sich aus dem Geschützturm und lacht. Dann zieht er die Pistole aus dem Halfter und schießt einem Passanten in den Kopf. Im Café hat man den Sender wieder gefunden. Musik. Dann die Stimme eines Nachrichtensprechers. Provokateure, Konterrevolutionäre und imperialistische Agenten greifen Sicherheitskräfte an und versuchen, die Solidarität der Arbeiterschaft zu unterwandern. Doch der Sozialismus wird siegen. Im Raum Poznań gilt dennoch die absolute Ausgangssperre. Musik. Ein Soldatenmarsch. Einer stellt seine Tasse ab, wendet den Blick ungläubig nach oben, streckt die Hand aus. Andere folgen seiner Bewegung. Jetzt sehen sie ihn. Der junge Mann hat sich zur Straße gewandt, die Arme ausgebreitet klebt er an der Fassade. Sein dunkles Jackett klafft offen, wie zwei schlaff herabhängende schwarze Flügel. Ein Rabe mit geknicktem Gefieder. Sein Hemd ist blütenweiß. Gestern abend hat er es aus dem Koffer genommen, in seinem Hotelzimmer in der Nähe des Zentralbahnhofes. Es ist das einzige frische Kleidungsstück, das er aus Paris mitgenommen hat. Auf dem grauen Kittel des Arbeiters ein feines Netz von Blutspritzern. Ungläubig blickt er an seinem Oberkörper hinab. Der Schuß hat seine Schläfe gestreift, und sein rechtes Auge ist bedeckt von Blut. Ein Polizist läuft auf ihn zu und schreit etwas Unverständliches. Seine Knie werden weich. Er geht zu Boden, die Handflächen nach vorne gestreckt. Starke Hände zwingen sein Gesicht auf das Straßenpflaster. Dann bricht man ihm das Genick. Wild gestikulierend treten die Gäste des Cafés auf die Straße. Auf der Zugfahrt nach Warschau hat er noch einmal Marx gelesen. Die Ankunft in der Stadt wirkt auf ihn wie eine Befreiung. In sein Tagebuch notiert er: Hier soll es also geschehen, in einem Land, das die kapitalistische Unterdrückung abgeschüttelt hat, in dem die Idee der Gleichheit so umfassend durchgesetzt wurde, wie es der Großen Revolution nicht bestimmt war. Hier kann ich in Frieden den Tod finden. – Er blickt nach unten. Die Menschen klein wie Ameisen, einige sind aus einem Café an der Ecke getreten und winken zu ihm herauf, eine Straßenbahn ist stehen geblieben, und ihre Insassen recken die Köpfe nach ihm. Doch der Lärm der Stadt verschluckt ihre Rufe. Nichts davon dringt an seine Ohren. Nur der Wind, der ihn umfängt. Für eine Sekunde scheint die Zeit still zu stehen. Es ist der Moment, den er so lange ersehnt hat. Er drückt die Handflächen gegen den kühlen rauhen Sandstein: Ein sanfter Druck. Dann lösen sich seine Füße. Er sucht das Übergewicht. Breitet die Arme aus. Und während so das Ende seines Traums beginnt, hat sich die Wirklichkeit um ihn herum schon längst wieder geschlossen.