Sonntagsarabesken #42

Wir haben einander lange nicht mehr gesehen. Wir haben einander lange nicht mehr berührt. Unsere Leben haben sich entknotet. – Er spürt, wie sich die Silben zwischen seinen Lippen formen, wie plastische Objekte, wie kühle Glasmurmeln, die er hinter den Wangen hervorrollen läßt, und stellt sich ihr Gesicht vor. Die Details sind unscharf geworden. Ein Bild in Pastell. Mit rostroten Flecken. In seinem Kopf öffnet sich ein Rosenkelch. Nichts könnte schöner sein, denkt er, als sie wieder zu sehen. Nichts.

Sie steht am Wasser und blickt auf den Horizont. Hinter ihr brennen mit leisem Knistern die Fackeln. Sand unter den Füßen, zwischen den Zehen, die sie langsam hin und her bewegt. Wenn jemand eine Packung Tabletten in einem Wasserglas verührt und nichts mehr sieht, keinen Gedanken mehr verschwendet, wenn sich das Leben auf einen Moment reduziert, sich zusammenballt in wenigen Minuten und so schwer wird, dass es den gepeinigten Körper auf das Bett niederdrückt, dann ist es wirklich Zeit für einen Abschied, oder? Sie hebt langsam die Arme, als wollte sie die Sonne begrüßen, die als schmaler orangeroter Rand zwischen dem Schwarz des Himmels und dem Dunkelblau der Wellen glüht. – Kannst Du mich sehen? fragt sie in den salzigen Wind hinein. Sie schmeckt eine Träne im Mundwinkel. – Kannst Du sehen, wie sehr ich Dich vermisse? Ihr Körper dreht sich. Wenn ich heute sterbe, dann vor Liebe. Wenn ich heute sterbe, dann mit Dir.

Er weiß nichts von Wassergläsern und Tabletten. Er weiß nichts von Sand und Wellen. Mit großen, zielstrebigen Schritten wandert er durch dunkle Gassen, deren Asphalt unter der feuchten Abendhitze Blasen zu schlagen scheint. Menschen sieht er nicht, auf seinem Weg vorbei an Erinnerungen, die sich entlang der Fassaden wie in Schaufenstern aufreihen. Gesichter, Augen, Lippen. Die Steine beginnen zu leben. Einer zieht in magisch an. Das Geräusch der Schuhsohlen auf dem Pflaster verstummt. Er legt seine heiße Handfläche gegen die polierte Seite des Quaders, der sich eisig, leblos, feindselig anfühlt. Im glänzenden Granit sieht er sein Spiegelbild. Er hört ihre Worte: Es sind schöne und wertvolle Gedanken. Das ist wahr, denkt er. Wunderschöne.

Sie hat die Augen geschlossen. Die Bilder sind verschwunden. Er ist verschwunden. – Ich will Dich nicht mehr sehen! flüstert sie. Ich habe genug von Deinem Elend und Deinen Hundeblicken, Deiner verwundeten Eitelkeit, Deiner peinlichen Romantik! Laß mich in Ruhe, Du hast mir nichts zu bedeuten, obwohl ich Dich von ganzem Herzen geliebt habe. Aber jetzt ist es zu spät. – Endlich fühlt sie sich erleichtert, die Beklemmung von zuvor hat nachgelassen, der Schmerz in ihrer Kehle ist vorbei. – Wenn wir keine Schmerzen mehr fühlen, heißt das dann, dass die Gefühle aufgehört haben? Oder heißt es, dass wir tot sind? Sie beginnt zu lachen. Der Gedanke amüsiert sie. Und er tut weh. Aber nur nebenbei.