Sonntagsarabesken #60

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Er hört zu. Er sieht zu. Sie scheint zu sagen: Verschieben wir das Ende um einen Tag. Die Musik hat sieben Leben. Es wäre leichtsinnig, das Lied an dieser Stelle zu unterbrechen. Man soll weiterspielen. Und man spielt auch weiter. Bis zur nächsten und übernächsten Nacht, bis die Erschöpfung der Zuhörer zu groß, die Kraft der Musiker jedoch fast schon aufgebraucht sein wird. Bis ihre Stimme nur noch in Nebeln kalten Zigarettenrauchs und leeren Martinigläsern vibriert. Bis die grauen Stunden die Schönheit zu fressen beginnen. Doch dieser Moment ist noch weit entfernt. Sie steht, ein Bein leicht vorgestreckt, und blickt in das Licht der Bühnenscheinwerfer, ins Nichts, sie löst sich auf ohne die Kontrolle zu verlieren. Distanz ist der halbe Sieg. In der Pause zwischen zwei Takten könnte sich jetzt der Bogen ihres Körpers bis zu den Sternen spannen, wie eine Quecksilbersäule, deren Auf und Ab das Draußen und seine Kälte für unsere Augen begreiflich werden läßt. Sie könnte sich aber auch in das Raubtier verwandeln, das man bei ihrem Anblick zu sehen glaubt, in einen schlanken Tiger, der den Zeitpunkt seines Sprunges berechnet und dabei die Lässigkeit des um seine grausame Kraft Wissenden ausstrahlt. Sie tut nichts davon. Genießt das Kreisen der Gestirne. Sie ist der Mittelpunkt. Zentrum der Harmonie, der Musik, der rollenden Bewegung, die das Glück in ihr Bewußtsein pumpt. Das alles wird mit Wohlgefallen betrachtet, sorgfältig geprüft, gegen den blitzenden Spiegel des Bekannten gehalten und damit verglichen, während die Klänge an- und abschwellen. Der Beobachter führt den geeisten Rand des Glases an seine Lippen, mit einer Bewegung gezügelter Gier, die fast wie Dressur wirkt. Das zivilisierte Lächeln kann jedoch die wilde Lust nicht kaschieren, mit der er den roten Vermouth an seinen Gaumen rinnen läßt. Ein hastiger Atemzug zaubert Dunst auf sein Glas. Er hört ihr weiter zu. Und sieht ihr weiter zu. Ohne ihn anzublicken hat sie ihm nämlich ein wunderbares Geschenk versprochen. Unter den Strophen des Liedes, zwischen ihren Stimmbändern, dort lockt die Wahrheit, die den Beobachter um sein Leben trinken läßt. Im Rauschen des tausendstimmigen Wasserfalles fühlt er sich geborgen, satt und müde. In ihm öffnet sich strahlende Schönheit wie eine Sonnenblüte. Er sieht zu. Er hört zu.