Sonntagsarabesken #61

Wartezeit. Die Stunde zwischen zwei Hinrichtungen. Oder auch: Das letzte Sonnenlicht vor dem Tunnel. Wäre sie nicht in Lugano aus dem Zug gestiegen, sie hätte keinen Aufschub mehr gehabt. Der Gedanke an zuhause nimmt ihr den Atem; ihre Hand tastet nach der Kehle. Ihr Mund ist ausgetrocknet. Der Staub der Landstraße klebt in ihrem Gesicht. Sie denkt an kühles Wasser und schattige hohe Räume. Und doch zwingt sie sich zur Bewegungslosigkeit. Der Bahnhof knistert in der Hitze, menschenleer. Sie starrt über die Geleise, ins Nichts. Was sieht sie dort? Die blauen Wangen des kleinen Sohnes, seine fieberglänzenden Augen, die Enge des Zimmers, die sich um seinen kleinen Körper zusammenzuziehen begann. Man wartete auf den Krankenwagen, man wartete auf das Heulen der Sirenen. Nichts. Der Junge starb. Es war ein langsames, überschaubares Sterben. Rund um das Bett saßen sie, zu zweit, zu dritt, und konnten trotz ihrer unüblichen Einigkeit nichts tun. Sie hielt die kalte Kinderhand. An ihrer Schulter spürte sie die Wärme, die von der Masse ihres widerlich schwitzenden Ehemannes ausgeht. Sie fand ihn unmöglich, wie immer, nicht nur in dieser Situation, als der Tod genau vor ihnen sich in aller Grausamkeit entfaltete. Er trug den dicken Wollanzug, das häßliche Hemd mit dem abgewetzten Kragen, und er roch nicht nur nach saurem Schweiß, sondern auch nach dem fremden Parfüm, das so oft zwischen den Bettlaken hing, in letzter Zeit. Die Finger ihres Sohnes schlossen sich fester um ihren Handrücken; ihr Mann schnaufte vernehmlich, sein Brustkorb hob und senkte sich, ihre Schulter streifend. Den aufsteigenden Ekel hinunterwürgend drehte sie sich etwas zur Seite und sagte mit gedämpfter Stimme: Du bist unmöglich! Schämst du dich nicht? Warst du gerade bei ihr? Warst du bei ihr, als wir telefoniert haben? – Der Junge stöhnte. Seine Augenlider zitterten. Ihr Mann schüttelte unwillig den Kopf: Ich war schon weg, bin gerade auf dem Weg nach Hause gewesen. Also nein, wenn es dich interessiert, ich war nicht mehr bei ihr. – Ein Blick auf die Uhr, dann zuckte er die Achseln: In einer halben Stunde muß ich eigentlich wieder zur Arbeit. Und abends komme ich nicht nach Hause, warte also nicht auf mich! – Ein unheimlicher Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus. Kurz herrschte Stille, nur das Ächzen des Kindes war zu hören. Dann sprang sie auf, seine Hand loslassend. Sie blickte gehetzt von einer Ecke des Zimmers zur anderen, zum Fenster hinaus, dann dem schrecklichen, unaussprechlichen Mann, dem dunklen, schlecht gekleideten, stinkenden Fleischberg starr in die mitleidlos verfärbten Augen. Wo ist der Notarzt? Wo? schrie sie mit vor Verzweiflung schriller Stimme. – Er verzog spöttisch den Mund: Bitte, Schatz! Mach jetzt keine Szene! – Die Hitze wird immer unerträglicher. Irgendwo spielt ein Radio fröhliche Volksmusik. Sie hat Durst und bleibt doch sitzen. Die Kräfte gut einteilen, dann kann man alles überstehen. Von einem Kirchturm läuten Glocken. Der schwerfällige, dumpfe Ton erinnert an das hohle Lachen ihres Mannes. Damals, vor zehn Jahren, als sie zu dritt und glücklich waren. Vielleicht. Die Erinnerung trügt, vor allem, wenn sie keine festen Anhaltspunkte mehr hat. Dann wird sie porös, beginnt unter den Fingern zu bröckeln und löst sich schließlich ganz in grauenvolle Fragmente auf. Sie atmet tief durch und streckt sich auf der harten Holzbank. Ihr Körper tut ihr immerhin noch den Gefallen einiger grundlegender Bewegungen. Sie lächelt schwach. Zum Glück ist sie in Lugano ausgestiegen.