Sonntagsarabesken #66

Der kalte Winterdunst vor den Fenstern sieht nach Influenza aus. Die Sonne hat sich hinter schneegrauen Nebelmassen versteckt. Ein grausamer, tödlich erkrankter Tag, dessen Ende noch lange nicht in Sicht ist. Am anderen Ende des Kontinents spült die Atlantikbrandung sterbende Fische an den Strand; ein warmer Wind weht über die roten Dächer von Coimbra. Die Krieger der Vergangenheit hocken wie Geier auf den Firsten und warten auf die Erlösung, dreihundert, vierhundert Jahre alt. Am Kap der Guten Hoffnung hat mehr als einer seine Seele verkauft, für ein paar Sack Pfeffer oder eine Handvoll indischer Smaragde. Das also ist die unterste Linie unseres Himmels. Der Rand eines Landmonstrums. Der Beginn eines Ozeans. Von weit draußen, aus Richtung eines anderen, eines zweiten, geheimnisvollen und rot glühenden Horizontes zieht ein Sturm mit blau geäderter Wolkenwut herauf. Morgen wird er die Pyrenäen überquert, die Ardennen gekreuzt und die Alpen überflogen haben. Morgen wird es Schnee geben. Schlammfontänen, Dreckwasser, fiebrige Erkältungen und noch vieles mehr. Ich spüre jeden einzelnen Eiskristall schon jetzt als feinen Stich hinter den Schläfen. Dazu gibt es italienische Terzette von der Tageskarte. Ich bin auf Diät gesetzt, gegen klimatische Extreme, wie ich denke, kann nur erbauliche Schonkost helfen. Zurückhaltender Anschlag im Dreivierteltakt. Das Auge des Tornados sei der ruhigste Ort, sagt man (sagt auch die Nobelpreisträgerin und will deshalb dort leben). Der Strudel der durch schleppende Takte zusammengehaltenen Musik zieht mich genau dorthin. Ich sehe das Ziel vor Augen, die leere Fläche, auf der sich kein Lüftchen regt, den toten Punkt, der endlich Heilung verspricht. Nicht mehr an die im Voraus gedachte Häßlichkeit von morgen denken! Die Augen öffnen! Denn vor mir sitzt ja noch Du und strahlst im goldenen Licht Deines Lächelns. Mädchen, Du bist die herrlichste Medizin gegen alle meine Ängste! Unbeirrt brennende Fackel in orientierungslos verbrachten Nächten. Ruhepol zur koffeeingetränkten Mittagsstunde. Knotenpunkt zwischen Traum und dem, was den Traum verlängert und Wirklichkeit genannt zu werden pflegt. Meine letzten Wochen waren voll von Dir. Stunden, ja Tage, an denen ich dank Dir meine verfluchte Melancholie von Mal zu Mal weiter zurückdrängen konnte. Unser Beisammensein ist Entspannung und Geschenk. Jedesmal aufs Neue. Ich will Dir sagen: Du läßt die Horizonte verschmelzen, den wunderbaren, weit entfernten (hinter dem allerdings die Stürme geboren zu werden pflegen) und den allzu nahen, schwefelgelb gefleckten, der die Silhouette der grauen Stadt wie eine Aureole von Sepsis und Verwesung umfängt. Blonde Zauberin, Du bist die Perle meines einsamen Winters.