Sonntagsarabesken #67

Im Takt der Musik den Kopf schütteln an der Scheibe des rasenden Waggons, der auf den Ziegelstelzen des Viadukts zu balancieren scheint, ein Traumtänzer, Wesen zwischen leichter und schwerer Welt, schwebendes Tier, neongrell beleuchtet, mit rotem Streifen auf weißem Fell. Man glaubt, auf jeder einzelnen Taste zu liegen, wenn sie angeschlagen wird; man glaubt, die Sterne nicht zu sehen, weil ja die strahlende Stadt vor den Fenstern sich ausbreitet. Und doch sind sie da. Immer. Die Saiten schwingen mit tiefem Surren, sie schwingen noch lange, begleiten den Schritt, der die Treppen hinunter, die Straße entlang, in die Kälte hinaus sich beschleunigt. Es könnte schon schneien, heute sogar. Der Himmel bleibt trocken. Augen, die das Weinen nicht gelernt haben, das sind die trockenen Himmel der Winternacht. Atmen die Menschen gemeinsam, in diesen hässlichen Stunden? Oder verzweifeln sie im Angesicht der Einsamkeit? Es könnte sich entscheiden, heute sogar. Doch die Seelen bleiben verschlossen. Angekündigte Offenbarungen verschieben sich zumeist, oder sie werden verschoben. Morgen ist es bereits zu spät. Denn morgen ist sie weit weg. Das zerrissene Pärchen geht seine getrennten Wege durch die Stadt; ja, morgen ist sie weit weg. Er spürt einen undefinierbaren Schmerz, der ihm den Bauch zu zerreißen droht. Angst vor dem Verlust. Vielleicht. Alles hängt zusammen in der Psychosomatik der Liebe. Ist es Liebe? Er weiß es nicht. Sie sitzt vor dem Bildschirm und liest die Zeilen, die er vor Wochen, in anderer Laune, unter anderen Umständen geschrieben hat. Die Worte erinnern sie an ihn (wovon er freilich in diesem Moment nichts weiß). Es ist eine angenehme Erinnerung. Allerdings ahnt sie nichts davon, wie sehr er sich nach ihr zu sehnen begonnen hat. Kann nicht einschätzen, welches Chaos sie angerichtet hat. Ja, unwissend ist sie! Die möglichen Bahnen des Nachtwanderers, der zu Klaviermusik seine Fahrt hinein ins Dunkel unternimmt, liegen jenseits ihrer Vorstellungskraft. Doch trotzdem: Etwas ist in ihr, das sich an ihn nicht nur erinnert, sondern förmlich nach ihm zu rufen begonnen hat. Er könnte sich erschießen, in dem Glauben, von ihr nicht geliebt zu werden; doch dabei könnte er falsch liegen.