Sonntagsarabesken #77

Ein kleines Café in Paris. Aus dem Radio dringt eine rauchige Frauenstimme, unterlegt von harten Rhythmen. Zwei junge Kellner mit nach hinten gestrichenen Haaren, auf denen eine graue Patina aus getrocknetem Gel schimmert, schlagen Haken um die dicht gedrängten Tische und schreien ihre Bestellungen in die winzige Küche. Dampf steigt auf, und die Espressomaschine rattert. In einer Ecke des Raumes sitzt der pensionierte Chefredakteur Arnaud und rührt in seinem Kaffee, das Chaos unbeteiligt überblickend. Er hört über die Musik hinweg, deren Lautstärke er als störend empfindet. Er hat sich in den roten Plüsch der Sitzgarnitur zurückgezogen, mit dem Rücken fest gegen den Polster gepresst. Seine Atmung erfolgt ohne Aufregung, minimalistisches Heben und Senken des Brustkorbes; die Luft, die seine Lungenflügel füllt, ist eine feuchtwarme Mixtur aus Nikotin, Schweiß und Wasserdampf. Wortfetzen strömen aus der Umgebung auf ihn ein und bilden in seinen Ohren ein gallertartige Masse überhastet geäußerter, unaufrichtiger, glühend heißer, berückend ehrlicher und langweilig zerkauter Vorstellungen, derer sich ihre Träger entledigt haben, nur um sie (unwissentlich) in die Gehörgänge des unfreiwilligen Zuhörers zu kippen. Noch immer kreiselt sein Löffel träge durch das trübe Braun der Flüssigkeit. Seine einzige Obsession ist das Denken. Nicht das Sehen und nicht das Hören. Letztgenannte Tätigkeit erzeugt in ihm höchstens einen gewissen Ekel, der langsam von unten an die Oberfläche steigt und zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt wie eine große Luftblase das dünne Eis seines Verstandes zum Brechen bringt. Er möchte sich am liebsten jeder Wahrnehmung von außen verweigern, sich einschließen im Käfig seines Körpers und die Augen nur noch im Traum erfüllten Denkens öffnen. Der pensionierte Chefredakteur Arnaud ist überzeugt, genug gesehen und gehört zu haben. Er hat sich in eine Frau verliebt, die ihn abweisen musste; er hat Monate und Jahre mit Fragen nach dem Geschehenen vergeudet; er hat sich gequält auf einer Suche, die weder Sinn noch Erfüllung bieten konnte. Das Café ist mit seinen Wänden über ihm zusammengewachsen und hat ihn geschluckt, freundliche Übernahme eines Kadavers, dem jede Zufriedenheit bislang verwehrt geblieben war. Sein Löffel wird die Bewegung nie zu Ende führen und soll es auch nicht. In der Schwerelosigkeit des Augenblicks zerrinnt der Schmerz über ein sinnloses Leben. Aber was geschieht, wenn dieser Augenblick vorüber ist?