Sonntagsarabesken #84

Blütenschäumende Frühlingswege, die sich vor dem Schritt des schnell Begeisterten öffnen. Der klagende Ton der himmlischen Stimme zieht den Spaziergänger tiefer und tiefer in die grünen Kanäle hinein; er kennt sie seit seiner Kindheit, und doch hat sich mittlerweile ein bitterer Schatten um jeden Blattumriß gelegt, denn die Zeit der Unschuld ist vorbei, angebrochen der Realismus, der als düstere Grundierung dem Erwachsensein gebührt. Blut färbt die Himmelsstreifen, die von explodierender Natur gerahmt werden. Nichts ist unpassender als dieser gewalttätige Kontrast, findet er, während er den Verschlingungen seines Denkens folgt, auf der Suche nach dem Verlorenen, das nie wieder kommen wird, und dem Abwesenden, das er liebt und begehrt wie noch nichts anderes zuvor. Die Spuren verlieren sich im Nebel seines gegenwärtigen Glücks; die Biegungen hellen sich auf. Wie lichterfüllt diese Tage doch sind! Es verschränkt sich Gesehenes mit Gedachtem und Gefühltem. Frischer Seewind läßt junges Laub im sonnendurchzogenen Wien rascheln. Die Stimme will und will nicht verstummen. Sie singt von Todessehnsucht und unerfüllter Liebe, von einem schrecklichen Sakrileg gegen die Vernunft, von ekstatischer Kapitulation im Angesicht des eigenen Versagens. Der Weisheit Schluß. Ein tragisches Ende. Vor etwa sieben Jahren hat er dieses Lied zum ersten Mal gehört. Begeistert von der romantischen Verzweiflung, die in heroische Selbsttötung mündet. Immer wieder begeistert und bereit, das Gehörte als Maxime zu befolgen. Einer der Gründe, jede Verliebtheit bis zur Unkenntlichkeit zu idealisieren. Das alles erkennt er jetzt nicht wieder: Das Blühen und Wuchern hat sich mit ekelerregendem Appetit über die ausgetretenen Wege hergemacht und sie zum Verschwinden gebracht. Er ist abgeschnitten von einem Teil seiner Vergangenheit, von einem Brocken Zeit, den er offenbar tatsächlich im Proustschen Sinn „verloren“ hat, allerdings in der Gewißheit, dass ein Wiederfinden für immer unmöglich sein wird. Die Musik, in die sich die Stimme hüllt, ist die selbe geblieben. Doch seine Welt hat sich gehäutet.