Sonntagsarabesken #89

Es ist die Krankheit hinter der Krankheit, die ihn befallen hat. Während die gelb getünchte Hauswand der Glaserwerkstätte zum ersten Mal in diesem Jahr mit blutroten Rosenblüten sich geschmückt hat, die einen betörend süßen Duft verströmen, geht er blind und taub durch die engen Gassen seiner Kindheit, denn nichts hält ihn noch in dieser kochend heißen Stadt. Der reinigende Gewitterregen bleibt aus. Das Schlachtfeld bebt unter den Tritten einer unsichtbaren Armee, die schon vor langer Zeit hinter den Bergen verschwunden ist. Zumindest wollte man es glauben, als die Flammensäule über der schwarzen Profillinie der Karpaten aufloderte und der winterliche Reif in Tau verfloß. Doch offenbar sind Stachel in seinem Fleisch stecken geblieben, getränkt mit dem Gift der Einbildung, die ihm jetzt den späten Frühling wie eine einzige monströse Illusion vor Augen wirbeln lassen. Darüber breitet sich gezierte Musik wie ein Zauberteppich. Was ist bloß mit ihm los? Er träumt von einsamen Duetten und dem Ende der Zeit, dem Punkt hinter dem Horizont, an dem sich die Sternbahnen überkreuzen und in Ewigkeit aufheben, er träumt sich fort aus dieser Pestgrube, die nur noch von halb zerfressenen Kadavern bevölkert scheint, träumt sich in den Schatten eines Ölbaumes, an die Kante einer thymianbewachsenen Klippe und in den Schoß einer blonden Göttin. Der schwüle Tiefdruck pocht gegen seine Schläfen, als wollte das Wetter sein Gehirn aus dem Schädel pressen; es ist die Stunde, in der sich alles auf elektrische Entladung vorbereitet. Dann vielleicht angenehme Kühle? Oder doch nur Verlängerung des kalten Fiebers, das seitlich an der Hitze vorbei gleitet und von Regentropfen nicht berührt werden kann? Die Insekten schwirren in verzweifelter Anstrengung gegen die Last überfeuchter Luft an: Undurchdringlich der Vorhang aus Stimme und Violine, ein hermetisch geschlossener Raum, in dem es zur Explosion kommen wird. Das Drama entwickelt sich. Er spürt Hände auf seinem Rücken, die ihn geisterhaft berühren, Schweiß gegen Schweiß, Beine zwischen Armen, dazwischen Finger und Lippen geknotet, ein Durcheinander, in dem sich die exakten Zahlen verlieren und nur der Augenblick von Bedeutung ist. Schlichte Holzwände schließen sich um ihn, und endlich prasselt Wasser auf das Wellblechdach. Minuten wie im Rausch. Er sieht sich selbst beim Leben zu, einem Leben, das sich hinter seinem Rücken abspielt. Die Gestalt, die er nur verschwommen vor sich erahnt, hat nichts mit dem überzeugten Zyniker zu tun, zu dem er in den letzten Jahren geworden war. Stattdessen: Ein weiches, hin und her gerissenes Etwas, das unter Schmerzen die Gegenwart zu vergessen sucht und sich über Vergangenes rettet. Gefangen in der Krankheit, die nichts anderes als elegantes Ausweichen ist und den Kontakt zu dem sinnlichen Komponenten des Draußen längst eingebüßt hat. Erkrankte Seele, eingeschlossen in seinem Körper, er selbst eingeschlossen in dem holzverkleideten Gefängnis des stickigen Raumes, der kein Geräusch hinaus dringen läßt und doch von oben mit einem Trommelfeuer aus Wasser und Dreck bearbeitet wird. Dreifache Einschließung, drei Hüllen, übereinander gestülpt und luftdicht abgepackt, so sieht offenbar das Szenario seines augenblicklichen Irrsinns aus. Alltag? Nein. Ausnahmezustand? Nein. Die Symptomatik eines widerstandslosen Lebens, das sich selbst aus den Augen verloren hat.