Sonntagsarabesken #95

Die Farben der Stadt und ihre Klänge haben sich gewandelt. Ein erstickender Hitzeschleier breitet sich über Dächer und Menschen, die Vegetation ist mit leisem Röcheln am Verenden. Hinter hohen, von Schlinggewächsen bedeckten Mauern spielt man Tennis. Weiß gekleidete Gestalten laufen im roten Staub hin und her, lachend und schreiend, und dazwischen klirren Limonadegläser gegeneinander. Auf den Straßen sieht man vereinzelte Radfahrer, doch sonst herrscht eine glatt gebürstete Ruhe. Über der Baumsilhouette des Wienerwaldes schieben sich wie in einem Papiertheater dunkle Wolken übereinander. Man stöhnt unter der brennenden Sonne und redet von Regen. Vielleicht später. Nachts. Wenn die Gassen, in Silberlicht getaucht, ihre märchenhafte Unschuld beteuern. Gruppen von Jugendlichen unterwegs auf der Suche nach Zerstreuung, die herrenlosen Gemüter schweifen lassend. Die gefährliche Fülle der Zeit lassen sie mit lässigem Schulterzucken an sich abprallen. Umflossen von diesem Ewigkeitsstrom betäuben sie ihre Ängste mit allem, was gerade zur Hand ist. Wählerisch kann man nicht sein, trotz der entgegenkommenden Dekadenz des Jahrtausendbeginns, der seine Kinder mit dem Wesentlichen wie selbstverständlich versorgt. Abgelaufenes Bier ist hier die größte Sorge, übertroffen nur von der größten vorstellbaren Katastrophe: Schmutz auf den neuen roten Sportschuhen. Das Lachen, das hinter der grün umwucherten Mauer glockenhell ertönt, setzt sich, an den Hausfassaden entlang kriechend, Hecken durchtrennend und auf fremde Schultern kletternd, bis in die abkühlende Luft der Nachtstunden fort. Wie ein abendlich gekleideter Schmetterling flattert es die Treppen der golden beleuchteten Villen empor, auf die voll besetzten Terrassen der feinen Restaurants und durch offene grün lackierte Türen hinein in die dunkel getäfelten Eingeweide der Innenstadtbars. Dort läßt es sich nieder, schwebt unter Glaskuppeln und webt sich in den Zigarrenrauch, der die Lippen der Anwesenden als stahlblaue Lockenkringel verläßt. Die gedrungene dunkle Gestalt des Kellners huscht vorbei; Stilian beobachtet ihn aus den Augenwinkeln, wie er sich nach Aufnehmen der Bestellung vom Nachbartisch einer attraktiven Blonden zuwendet, den Kopf ganz nahe an ihr rechtes Ohr heranführt, bis seine Wange fast ihren Nacken berührt. Stilian führt den kalten Rand des Martiniglases an seine Lippen. Der Kellner verharrt noch immer in seiner geneigten Position. Die Frau lächelt ihn versonnen an, das kann man dem gerade noch erkennbaren Zucken ihrer rot umrandeten Mundwinkel entnehmen. Das Deckenlicht strahlt ihren Hinterkopf an, so dass sich ein Schattenfleck über ihr Gesicht gelegt hat. Stilian würde es gerne sehen. Stattdessen krallt sich sein Blick in ihrem hochgesteckten Haar fest. Der Kellner, denkt er mit einem leichten Anflug von Ärger, kann ihr genau in die Augen sehen, kann ihren Mund bewundern und die unter den leicht geöffneten Lippen schimmernden Zähne, kann die Beugung ihres Armes begutachten, ihre Brüste, die sich unter dem schwarzen Cocktailkleid verführerisch heben. Plötzlich setzt leise Musik ein. Stilian atmet tief durch. Der Kellner haucht der Frau einen Kuß auf die Stirn und verläßt ihren Tisch. Sie bleibt unbeweglich. Stilian spürt ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen und ist überrascht: kann es so etwas wie Eifersucht sein? Aber weshalb? Wegen einer fremden Frau, die er noch nie zuvor gesehen hat und der er wohl auch nie wieder begegnen wird? Nachdenklich nippt er an seinem Martini. Die Kühle der Flüssigkeit entspannt ihn ein wenig. Das sommerliche Lachen erhebt sich von seinem Platz und schwirrt mit insektengleicher Geschwindigkeit über das zerknitterte Wasser des Donaukanals, in der Dunkelheit verschwindend. Morgen, denkt Stilian, wird es Regen geben. Hoffentlich.