404 Media hat den wahrscheinlich relevantesten Artikel zur Festnahme des Telegram-Gründers und CEOs Pavel Durov verfasst. Im Artikel stellt Jason Koebler dar, wie Durov zum Märtyrer eines Kulturkampfes wurde, in dem es – ganz banal wie immer – um rechts gegen links und das damit verbundene Narrativ der freien Meinungsäußerung (der Rechten) gegen ihre Unterdrückung durch die böse EU (mittlerweile in der Tech-Branche ja auch Sinnbild für „die Linken“ geworden) geht. Und natürlich bekommt auch die US-Regierung, die da irgendwie mit an Bord ist und ohnehin überall ihre Finger im Spiel hat, ihren Senf ab, aber nur indirekt, durch Signal nämlich.
Wen es also im Detail interessiert, wie Telegram der Gegenspieler zu Signal wurde und es Pavel Durov einfach und genial gelungen ist, die Sicherheit und Unabhängigkeit von Signal infrage zu stellen, der sollte sich den Artikel direkt bei 404 Media durchlesen (oben verlinkt). Hier bei mir gibt es aber eine Art kommentierte Zusammenfassung, ein tl;dr, die Highlights, sozusagen.
Auslöser, das haben ja alle mitbekommen, ist die Festnahme von Pavel Durov in Frankreich. Wieso aber interessiert es US-Milliardäre aus der Tech-Branche, dass ein Franzose russischer Abstammung in Frankreich verhaftet wurde? Hier wird ein politisches Narrativ bespielt, das schon länger in Umlauf ist und identitätsstiftenden Charakter für eine Gruppe von Menschen hat, die sich selbst als unterdrückt ansehen und gegen „die da oben“, wer auch immer das sein mag, rebellieren wollen1. In anderen Worten: Telegram ist Werkzeug in einem Kulturkampf zwischen rechts und links geworden, so banal ist es. Ein identitätsstiftendes Merkmal der einen Gruppe scheint es also zu sein, der Interpretation von Jason Koebler von 404 Media folgend, Telegram zu nutzen.
Because conservatives have promoted Telegram recently, some of them now see Durov’s arrest as a particular crackdown on America’s right wing, free speech, and, possibly, a political incursion against the Russian government and military, both of which use Telegram. […] Elon Musk, David Sacks, Ian Miles Cheong, Tucker Carlson, etc have all spoken out about the arrest, saying things that vary between suggesting this is a concerning incursion against free speech to suggesting, in Cheong’s case that “this is nothing but a witch hunt, an attempt to clamp down on the last bastions of free communication. They’re terrified of the truth getting out, so they label everything they can’t control as ‚terrorism‘ or ‚hate speech‘. It’s the EU’s latest move to strangle our right to speak freely, to share information without their Orwellian oversight. They’re after him because Telegram doesn’t bend the knee to their narrative control.”
Jason Koebler
Wenn ich da sinngemäß lese, dass sie gegen ihn sind, weil er für euch ist, dann erinnert das doch sehr an die markigen Sprüche wahlwerbender Parteien, in denen ein ominöses „sie“ einem noch ominöseren „wir“ entgegengesetzt wird2. Dieses Entgegensetzen macht den „Kampf“ deutlich: „Wir“, das Volk, hier vertreten durch den Messengerdienst Telegram, lässt sich vom übermächtigen Gegner („sie“), hier vertreten durch die EU, nicht unterdrücken. Wenn man, wie im Zitat oben, einmal in solcherlei Kategorien denkt, wenn es zur Verhaftung eines französischen Staatsbürgers in Frankreich kommt, dann sollten die Mechanismen der geistigen Selbstregulierung spätestens jetzt melden, wie konstruiert diese Art der Argumentation eigentlich ist und wie sehr die Verhaftung Durovs als einzelne Aktion für ein politisches Narrativ missbraucht werden kann… und wird. In anderen Worten: Tauchen in einem Argument plötzlich Pole auf (wir/sie) oder werden Dinge abstrahiert dargestellt, weil ihre konkrete Benennung die fehlenden Glieder in der Argumentationskette sichtbar machen würde, dann befinden wir uns nicht mehr in einem technologischen Streit, sondern in einem politischen. Und genau hier sind wir nun: Telegram (bzw. Pavel Durov) ist zum Opfer eines US-amerikanischen Kulturkampfes geworden, der, angeheizt vom gegenwärtigen Wahlkampf in den USA, an Brisanz (für die Betroffenen) und an Unterhaltungskraft (für die Zuseher) wenig zu wünschen übrig lässt.
In der New York Times ist ein Portrait über den erfolgreichen Telegram-Gründer3 erschienen, aus dem die Lust Pavel Durovs an der XXX hervorgeht,
Dass der erfolgreiche Telegram-Gründer in den letzten Jahren Öl gesammelt hat, das sich nun ins Feuer ergießt, und sein Image als Retter der Unterdrückten aus einem rechtlichen Scharmützel mit der russischen Regierung nicht nur glaubhaft nähren kann, sondern auch gut nutzen, um seinen Messengerdienst zu promoten, hat sich ganz offensichtlich gelohnt. Hie und da ein Posting wie „Privacy, ultimately, is more important than our fear of bad things happening, like terrorism“ oder „To be truly free, you should be ready to risk everything for freedom“ ergibt insgesamt schon ein starkes Märtyrer-Bild des Milliardärs, der sowohl die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Arabischen Emirate als auch Frankreichs hat.
Was mich besonders amüsiert, ist, wie Signal in diesem Narrativ als Gegenpol zu Telegram konstruiert und, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, als Messenger präsentiert wird, der „ganz bestimmt“ irgendwelche Backdoors enthält, die zwar nicht bestätigt sind (oder, in der rechten Diktion: werden können), deren Vorhandensein aber als gegen angenommen werden muss. Auch wenn alle technischen Analysen das Gegenteil beweisen, zählt der Glaube mehr als das Faktum. Und so war es, das kann ich Jason Koeblers Artikel auf 404 Media entnehmen, ein leichtes Spiel für Pavel Durov, seine Telegram-Plattform als das Instrument für die Unterdrückten zu präsentieren: er hat das Vakuum genutzt und es mit seinem System gefüllt. Auch wenn Telegram aus technischer Sicht – und das ist mehrmals von Menschen, die sich damit auskennen, bestätigt worden – deutlich mehr Risiko birgt, da es weder Messenger, noch wirklich verschlüsselt ist, aber dazu habe ich ja ohnehin schon geschrieben.
Wie lautet also die Story, die das Vakuum erzeugt hat? Bitteschön! Zuerst muss eine Verbindung (von Signal) zur US-Regierung hergestellt werden.
The quick version of how Telegram became a part of the culture war goes something like this. In April, Uri Berliner, who was then a senior business editor at NPR, alleged a widespread culture of woke at NPR in Bari Weiss’s The Free Press. […] Several right-wing bloggers attacked NPR’s current CEO and President Katherine Maher, who was previously the CEO of the Wikimedia Foundation, an organization that has been repeatedly attacked by conservatives […] for allegedly having a liberal bias. Maher is also a member of the Signal Foundation’s board of directors.
Im zweiten Schritt muss nun diese Verbindung, so lose sie auch sein mag, als Problem identifiziert und die Auswirkung des Problems auf das Produkt – Signal – konstruiert werden. Das erfolgt nicht auf Basis einer Analyse, sondern mittels Säen von Skepsis. Wie immer stellen sich diejenigen, die „wohl noch selbständig denken dürfen“, Fragen, die sie „wohl noch stellen dürfen“. Das sieht dann so aus:
In the aftermath of Berliner’s departure from NPR, right-wing blogger Chris Rufo wrote an article called “Signal’s Katherine Maher Problem,” which attempted to paint Maher as an extreme leftist [with] a connection she had early in her career to the U.S. State Department. […] “What does this all mean for American users—including dissidents—who believe that Signal is a secure application for communication? It means that they should be cautious,” Rufo wrote. “For those who believe in a free and open Internet, Maher’s Signal role should be a flashing warning sign.”
Nun, da die Verbindung konstruiert wurde und die Fragen gestellt worden sind, kommt ein entscheidender Moment, der darüber bestimmt, ob diese Erzählung Menschen zur Handlung bewegt oder ignoriert wird. Springt jemand, der Einfluss hat oder aus sonstigen Gründen für eine Gefolgschaft eine wichtige Persönlichkeit darstellt, auf das als Frage getarnte Argument, das in Wirklichkeit eine unbegründete Meinung ist, auf, so setzt sich etwas in Bewegung. Ist das passiert? Ja, sowas von!
Rufo’s article went viral, and was shared by Twitter founder Jack Dorsey, and Ethereum inventor Vitalik Buterin, and Elon Musk commented, “Yup, concerning.” Musk then claimed without evidence that “there are known vulnerabilities with Signal that are not being addressed. Seems odd…” Musk’s tweet was refuted by X’s own Community Notes.
Das Feld ist geebnet, Telegram kann nun auftreten und darf nur nichts falsch machen. Groß anstrengen muss man sich in so einem Umfeld auch nicht mehr. Pavel Durov hat seine Chance gut genutzt und seinen Service als Lösung für diese Probleme präsentiert. Dass er mit der US-Regierung wenig am Hut hat, legitimiert ihn automatisch.
Telegram’s Durov used Rufo’s blog post and the conservative energy behind it to promote Telegram as an alternative and made sweeping claims about the security of Signal without having anything to back it up: “A story shared by Jack Dorsey, the founder of Twitter, uncovered that the current leaders of Signal, an allegedly ‘secure’ messaging app, are activists used by the US state department for regime change abroad,” Durov wrote on his own Telegram channel. “An alarming number of important people I’ve spoken to remarked that their ‘private’ Signal messages had been exploited against them in US courts or media … for the past ten years, Telegram Secret Chats have remained the only popular method of communication that is verifiably private.”
Das war’s. Pavel Durov hat bereits gewonnen, in dem er lediglich (1) das Narrativ augenommen, ihm (2) einen kleinen Twist zugunsten seines Dienstes gegeben, (3) die Argumente wiederholt, für sich genutzt und (4) sein Produkt als Lösung des Problems präsentiert hat. Das war’s. Die aufgeladene Stimmung hat Emotion und ein prinzipielles Dagegensein über Mathematik und Kryptografie gestellt. Das Resultat dieses genialen Schachzugs im Marketing für Telegram:
Telegram was suddenly being championed by right wingers as a more ideologically sound (in their view) messaging app than Signal, and people who believed this began advocating for Telegram, despite the fact that the dominant view among security experts is that Signal is many orders of magnitude more secure and private than Telegram is for ordinary users.
Und noch eine Sache ist damit passiert: Signal ist vom durch etliche Audits bestätigt sicheren Messenger in eine Verteidigungsposition geraten, die lediglich darauf basiert, „wahrscheinlich“ und „vermutlich“ eine Verbindung zur US-Regierung zu haben. Der Dienst muss sich nun mit Vorwürfen auseinandersetzen, gegen die Telegram immun zu sein scheint, auch wenn dort einiges ganz offensichtlich nicht ganz so nachvollziehbar ist, wie 404 Media beschreibt.
We know incredibly little about Telegram the company, because Durov left Russia after it seized the social network VK […] from him. Telegram is now domiciled in the British Virgin Islands and operates out of Dubai. Information about Telegram’s broader operations, its complicated relationship with the Russian government, what information it retains on its users, and what information could potentially be gleaned from it by law enforcement are still largely unknown, and the subject of much discussion among security researchers. We have spent many hours at 404 Media discussing amongst ourselves why there is so much crime on Telegram itself and why Telegram has continued to let blatant criminal organizations operate on its platform in open, unencrypted channels. The only theory that makes any sense thus far is that the company sees itself as operating entirely outside the law.
Jason Koebler
Entscheidet also selbst, wo ihr mit wem kommuniziert.
- Dieser Wille, das nur nebenbei und auch nur, weil in Österreich gerade Wahlkampf ist, manifestiert sich dann in der Wahl der Partei, die diesen Willen am besten zu kanalisieren vermag. „Euer Wille geschehe“, heißt es da zum Beispiel auf der Plakatserie der FPÖ. ↩︎
- Den Slogan „Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist“ kann man getrost als den genialsten Werbespruch einer Partei bezeichnen, der seit 1994 überall, wo er zur Anwendung kommt, funktioniert und sogar heute noch, 30 Jahre gut genug wirkt, um mobiliseren zu können. ↩︎
- Danke, @danimrich, für den Hinweis. ↩︎