12 Learnings aus der Bereinigung von IBM.com

Der "Director of Digital" bei IBM beschreibt, wie IBM.com einer radikalen Vereinfachung unterzogen wurde. Obwohl man einen Twitter-Thread nicht dazu erheben sollte, ist das eine interessante SEO Case-Study.

Bryan Casey, seines Zeichens Director of Digital bei IBM, hat in einem langen Twitter-Thread eine Art Case-Study zur eigenen Website ibm.com veröffentlicht, die man sehr wohl unter dem Aspekt der SEO lesen kann. Denn wenn ein Thread einmal so beginnt, liest ihn der geneigte, SEO-interessierte User auf jeden Fall:

Over the last 9 months we’ve deleted close to 80% of the marketing footprint off http://ibm.com. Tens of thousands of pages. The result is that traffic, conversion and all our experience and NPS metrics are up. It was a gross project but I’ll tell you about it.

@bryanfcasey

Was können wir aus dem Twitter-Thread mitnehmen? Tatsächlich 12 Punkte, die mich dazu motiviert haben, so einen richtig hässlichen Clickbait-Titel für diesen Beitrag anzuwenden und ein ekliges Listicle daraus zu machen. (Ich entschuldige mich jetzt schon dafür, aber irgendwie macht es in diesem speziellen Fall auch Sinn.)

Bei IBM.com liegt natürlich ein großer Fokus auf der Mehrsprachigkeit, weshalb sie ein Drittel, also 4 von 12 Learnings, einnimmt. Die Größe von IBM sollte hier aber nicht abschreckend wirken. Wer auch immer schon einmal ein SEO-Projekt durchgeführt hat, weiß, dass alle (!) hier genannten Punkte selbst bei kleinsten Unternehmen relevant sind.

Okay, genug entschuldigt, eingeführt und begründet, ab in medias res! Hier meine 12 Learnings aus dem Twitter-Thread von Bryan Casey zur Vereinfachung der riesigen Website ibm.com.

1. Einfachheit schlägt Komplexität

Einfachheit schlägt Komplexität, selbst wenn es um ein Mega-Unternehmen wie IBM geht.

The complexity we create is never without some legitimate causes. IBM operates in well over 100 countries and our website had a sprawling universe of /cc-lc/s as a result. Like 160+. […] The result was that ibm.com became a holding company of websites. Sites within sites.

Wenn sich schon interne Redaktionsteams nicht mehr mit einer Website auskennen, dann tun es Userinnen und User noch viel weniger. Je einfacher eine Website aufgebaut, je logischer sie konzipiert ist, desto angenehmer für die, die sie mit Inhalten füllen, und desto leichter zu navigieren für diejenigen, die diese Inhalte lesen sollen.

2. Struktur ≠ interne Organisation

Der erste Punkt ist quasi Einleitung zum zweiten. Bryan Casey stellt schnell fest, dass die Navigation und Strukturierung der Website weniger dem Produktportfolio des Konzerns entsprach, sondern eher mehr einer internen, für Userinnen und User oft nicht verständlichen und durch die Größe des Konzerns nicht mehr überschaubare Organisationstruktur.

Ein, wenn nicht das Hauptziel des Umbaus der riesigen Website war es, diese Struktur klar, einfach und überschaubar zu machen. Später im Thread bestätigt sich der Erfolg dieses Ansatzes: Eine stark vereinfachte und konsistente Architektur und Struktur der Website führt insgesamt zu einer besseren Wahrnehmung jeder einzelnen Page.

3. SEO ist ein firmenweites Unterfangen

Etwas, das immer wieder übersehen wird, das aber Expert:innen auf dem Gebiet nicht müde werden zu betonen: SEO ist ein firmenweites Unterfangen. Alle müssen an einem Strang ziehen, jeder und jede muss von den Aktionen überzeugt sein, muss sie verstehen und unterstützen oder sogar dazu beitragen.

Auch Bryan Casey erwähnt das in seinem Twitter-Thread explizit. Im Grunde, so geht aus dem Thread hervor, wurde das Website-Projekt mit dem eindeutigen Namen „Simplification“ zuerst allen Business Units präsentiert, bevor es in die Umsetzung ging.

Auch die Prioritäten waren eindeutig, wie aus diesem Statement weiter unten im Thread hervorgeht:

One other thing I’ll mention is that I’m no religious zealot. Every BU leader is someone I need to work with. We need to get this done and have other teams not feel like they got burned, that they hate what we’re doing. […] My goal with every simplification exercise was to get what I needed to solve the bigger picture problem, 80% of what I’d do if it’s just me and excel alone in a room. But I’m willing to compromise enough to keep everyone at the table. Even better if they walk out an advocate.

Wenn alle an einem Strang ziehen, gelingt die Übung. Die Aussage „Even better […] they walk out an advocate“ geht als direktes Zitat in meine eigene Empfehlungsliste ein!

4. Inventar und KPIs

Dass eine Website im Jahr 2023 gänzlich neu entsteht, ist eher Seltenheit denn Regel. Insofern gilt es, die Modifikationen im Sinne einer Migration durchzuführen. Erster Task: Ein Inventar der gesamten Kommunikation erstellen und (SEO-) KPIs definieren. Zweiter Task: Jede einzelne Page auf diese KPIs prüfen und zur weiteren Bearbeitung klassifizieren. – Am Ende dieser Prüfung gab es für jede einzelne Page eine Empfehlung, die sein konnte:

  1. Beibehalten
  2. Löschen oder
  3. mit anderen Pages zusammenlegen.

Noch klassischer kann SEO gar nicht sein.

5. 1 Keyword = 1 Page

Das Löschen von mehreren tausend Seiten (siehe Punkt 4) war mit einem zusätzlichen Arbeitsschritt verbunden. Jede gelöschte Seite musste auf eine dem Target-Keyword entsprechende, äquivalente Seite umleiten. „No sloppy home page stuff„, schreibt Bryan Casey und spricht das Thema der Keyword-Kannibalisierung sogar direkt an:

One thing I didn’t mention was that we didn’t just carelessly delete 1k pages. We kept important things. We consolidated everything we could. We had places where we had 3 pages that could reasonably target the same keyword. Now we have 1.

Auch das ist ganz klassische SEO-Arbeit. Die Einzigartigkeit eines Target-Keywords ist eines der obersten Gebote.

6. Informationsarchitektur ist vorausschauende Planung

Nicht direkt im Thread, aber in den dem Thread folgenden Fragen kommt das Thema der Struktur immer wieder vor. Ein User wirft einen Punkt auf, den ich besonders interessant finde. Wie, nämlich, IBM in Zukunft verhindern will, dass die Website in ein paar Jahren wieder so aufgebläht und groß wird, dass eine Bereinigung abermals nötig ist. Dazu Bryan Casey:

The most important thing was changing the structure of the site. The old subsite structure encouraged certain types of bloat. The main site is much flatter now. It’s a lot harder to add in places we don’t want it.

In anderen Worten: Hier wird eine strukturelle Lösung mit einer technischen verschmolzen, wodurch ein Vorteil für den laufenden Betrieb entsteht. Selbst wenn dieser Vorteil für die Redaktion in dem Moment, in dem sie den Inhalt, der in Zukunft „Bloat“ sein wird, wie ein Nachteil wirkt.

Das ist ein äußerst spannender Aspekt, den man aus technischer Sicht gut kennt, der aber von Inhalt vermittelnden Einheiten (Marketing, Redaktion, manchmal auch Content SEO) gerne getadelt wird. Doch ja, auch hier siegt die Einfachheit – manchmal einschränkend – auf lange Sicht!

7. Mehrsprachigkeit ist verdammt schwierig

Eine mehrsprachige Seite aufzubauen ist schwierig, sehr schwierig sogar. Und bei IBM ist es nicht anders als bei vielen, deutlich kleineren Unternehmen: „Mehrsprachigkeit“ ist in Wirklichkeit auch in der Menge und Qualität des Inhalts unterschiedlich.

For our geo sites we really didn’t see outstanding role models or any market consistency. Some sites […] are relatively simple. SAP as a ton. HubSpot does only a few langs but does them comprehensively (like translating product screens level comprehensively).

Tatsächlich geht es hier weniger um unterschiedliche Sprachen, sondern mehr um unterschiedlich gewichtete Inhalte. Da es aber um Sprachen gehen soll, musste dieser Aspekt der Website massiv überarbeitet werden.

8. Sprachvarianten für Länder bringen’s nicht

Länderspezifische Sprachversionen funktionieren in den seltensten Fällen. Wenn das auch bei IBM so ist, dann, so denke ich, können wir festhalten, dass es Sprachvarianten für einzelne Länder eigentlich nicht wirklich bringen.

For langs vs country/langs we ended up moving from mostly country to mostly langs. We were having lots of duplicate content problems because the site was so big we couldn’t consistently localize so content was identical across locales. […] The result was that our us-en site was effectively our global english site and we were just pretending it wasn’t. We did user country to country site analysis for everything and found most people weren’t landing where we wanted.

Gerade den letzten Satz kann ich in mehreren Beispielen und aus eigener Erfahrung bestätigen. Länderspezifische Sprachversionen (zB /de-at oder /us-en) funktionieren in der Praxis eigentlich fast nie so, wie man sich das in der Theorie vorstellt. Sprachenspezifische Versionen ohne Länderzusatz (also nur /de oder nur /en) klarerweise schon.

9. Eindeutiges „Nein!“ zu maschineller Übersetzung

Bryan Casey hat eine sehr starke Meinung zum Thema maschinelle oder automatische Übersetzung, die so weit geht, dass er das Fehlen einer Übersetzung dem Vorhandensein einer schlechten maschinellen Übersetzung vorzieht:

We should comprehensively support at least one official lang in every country we do business but the economics are untenable. Like no chance in hell unless you are doing garbage machine translation. […] Which brings us to the next point that bad translation is worse than no translation. We did a reasonable amount of user research on this and not surprisingly people hate bad machine translation. It destroys trust and credibility. […] So translations need to be good.

Ja, meine Güte, sein Wort in den Ohren derer, die Websites planen, mit Inhalten füllen und betreuen! Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich schalte die automatischen Übersetzungen, die einige Seiten über Google Translate oder ähnliche Tools anbieten, sofort ab. Und ja, „it destroys trust and credibility“!

10. Mehrsprachigkeit ist regional unterschiedlich

Was ich nicht wusste, schlichtweg wohl, weil ich nicht damit zu tun habe, wovon ich mir aber definitiv eine geistige Notiz machen werde: Während es in bestimmten Regionen mit nahezu üblicher Mehrsprachigkeit kein Problem ist, so ist es in anderen Regionen ein sehr großes Problem, wenn es keine Übersetzung einer Website gibt:

One very clear finding that we haven’t found a way to consistently operationalize is that the “translation imperative” is much higher in double-byte langs (Korean, Japanese, Chinese) compared to say Spanish or German. Ideally you would do more in those markets. […] However in practice that is tricky because now you have at least two dif translation depths. It’s just more cognitive overhead. Oh this thing that works in Japanese doesn’t in German.

11. Schrittweises, kontrolliertes Vorgehen

„Execution is everything“, ist ein aus der Unternehmenspraxis nicht wegzudenkendes Mantra. So auch hier. Die Migration vom alten System zum neuen (und wir sprechen hier nicht nur von einer konzeptionellen Änderung, sondern auch von einer ganz praktischen: die Website ibm.com wurde von 3 (!) Content Management Systeme verwaltet) wurde minutiös geplant und der Plan selbst ist – natürlich – Teil der SEO-Strategie gewesen. Im Falle von IBM entschied man sich für ein Migrieren in Wellen bei konstanter Beobachtung des Traffics.

We had to execute this change across 3 CMSs. We went one platform at a time and worked through “waves” of country footprints at a time. We were deleting 5 sites a week for most of 1H 2023. We started with small markets and worked our way up to UK, India, etc. […] It was a good thing we did because we had complicated issues with cascading/overlapping redirect rules (http://ibm.com is an old, big site) that left some things initially broken and in need of remediation. But by the time we got to India and UK it was smooth. […] By the end we had nice real-time dashboards and we could see the minute traffic within a market flipped from one footprint to another. All that visibility, and doing it one block at a time, helped us make sure we didn’t screw anything up.

So wird es gemacht: Kontrollpunkte, Monitoring, Fallbackplan (nicht erwähnt, aber sicher vorhanden). Bilderbuch!

12. Pragmatismus vor Dogmatik

Abermals eine Referenz zum Punkt 3 (SEO ist ein firmenweites Unterfangen), diesmal aber als eigener Punkt, den man ruhig ein wenig abstrahieren und hier als solchen anführen kann:

And just like core simplification we were more pragmatic than dogmatic. We let some teams hold onto local campaign and event experiences. We didn’t want 50 pages to stop us from doing what we wanted to do with 50,000. […] The net result of all this was…

  • better performance for us (traffic, conversion)
  • better experience for users (nav, task completion, overall perception of site and content quality)
  • easier to manage site and more agile team (fewer things, better)
@bryanfcasey

In anderen Worten: Spielen alle mit, wird’s auch was. Ist SEO oder die Migration einer Website das Unterfangen einer (Marketing-) Abteilung, dann können sich eventuell Widerstände aufbauen, die so ein Projekt still sabotieren. Im Thread, der mit dieser oben zitierten, schönen und zusammenfassenden Punkteliste endet, geht es noch weiter und Bryan Casey geht auf einige Fragen von anderen Twitter-User:innen ein. Immer wieder taucht das Thema der Einbettung des gesamten Teams auf. Es scheint also ein wirklich wichtiger Punkt zu sein!

Ja, meine Güte, ja! Man kann sein Marketing nicht gegen sein Team machen!

Zum Schluss: meine Learnings

Okay, wir sind durch und die 12 Punkte, die ich aus dem Twitter-Thread extrahiert habe, liegen auf dem Tisch. Macht damit, was ihr wollt, ich werde sie jedenfalls – sofern es nicht ohnehin schon so war – nun noch stärker berücksichtigen als ich das bis dato getan habe.

Vor allem der Punkt Mehrsprachigkeit, dessen Problematik am Duo länderspezifische versus sprachenspezifische Inhalte besonders deutlich wird (also Punkt 8) war für mich, wenngleich nicht neu, aber doch eindeutige Bestätigung einer Vermutung, die ich schon lange hatte: Die Sprache ist das entscheidende Kriterium, nicht das Land.

Was die Einbeziehung des ganzen Teams angeht, so ist natürlich Caseys Position als „Director of Digital“ eine andere als die eines von extern hinzugezogenen SEOs, aber wenn ich mir im Thread selbst ansehe, wie oft die interne Abstimmung explizit oder implizit erwähnt wird, so berücksichtige ich das ab nun umso öfter. Fast schon könnte man so weit gehen, jeglichen Auftrag in diese Richtung abzulehnen, wenn nicht zumindest die prinzipielle Bereitschaft besteht, alle mit ins Boot zu holen. Ein auszuarbeitender Gedanke!

Lest den Thread auf Twitter, denn es ist eher selten, dass man eine doch recht detaillierte Beschreibung eines komplexen und sich über mehrere Wochen ziehenden Prozesses von so einem Unternehmen „einfach so“ nachlesen kann. Und wer will, kann sich natürlich nun ibm.com auch ansehen.

2 Kommentare

  1. ad Mehrsprachigkeit: Für einen weltweit tätigen B2B-Dienstleister wie IBM, der (so nehme ich an) in den meisten Ländern alles anbietet, ist es sinnvoll, die Inhalte nach Sprachen und nicht nach Ländern zu gruppieren. Aber mal ehrlich: wie oft haben wir uns schon darüber geärgert, dass wir auf einer englischen (B2C) Website ein interessantes Produkt oder auch eine Dienstleistung gefunden haben und erst nach einigem Stöbern draufgekommen sind, dass die Firma das nur Kunden in den USA anbietet? Falls sich das Produkt-/Dienstleistungsportfolio und/oder Werbeaktionen merklich von Land zu Land unterscheiden, sind Länderversionen nicht ganz blöd.

    Für mehrsprachige Support-Infos sah ich unlängst bei Automattic eine praktikable Lösung: „Diese Seite wurde noch nicht auf Deutsch übersetzt. Möchten Sie das englische Original lesen oder eine automatische Übersetzung?“

    • Völlig richtig: Wenn sich die Inhalte unterscheiden, dann begründet der Inhalt auch eine Unterteilung in länderspezifische Seiten. (Aber das passiert ja ohnehin, es geht ja bei den Ländern mehr um länderspezifische Sprachversionen wie at-de und de-de und nicht um länderspezifische Inhalte.) Aber ja, du schreibst es ja ohnehin, das ist bei IBM natürlich der Fall. Ich habe es aber auch erlebt, dass Google primär auf die DE- statt auf die AT-Page gezeigt hat, obwohl sich bspw. der Produktname ein wenig unterschieden hat, der aber dann ausschlaggebend war für die Verfügbarkeit des Produkts in einem bestimmten Land.

      Und ja, Teil 2: Die Automattic-Lösung ist spitze, finde ich auch!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert