Erinnert sich noch jemand an die Abmahnwelle eines niederösterreichischen Anwalts letzten Sommer, der in Österreich vielen, die von Google-Servern zugelieferte Schriftarten auf ihren Websites eingesetzt haben, ein Schreiben mit einer Forderung über 190 Euro zukommen hat lassen? Das hat damals erhebliches Unwohlsein und viel Facepalming verursacht. Am Samstag waren eben dieser Abmahnanwalt, gegen den nun übrigens selbst ermittelt wird, als auch einige seiner Gegner:innen in der ORF-Sendung „Bürgeranwalt“ zum Thema „Aufforderungsschreiben wegen Datenschutzverletzung“ zu Gast.
Wir erinnern uns – und alle Zitate hier kommen aus dem der Diskussion vorgeschalteten Beitrag oder der Diskussion selbst – worum es geht: Der Abmahnanwalt hat sehr viele – in der Sendung wird die Zahl 26.000 genannt – Betreiber:innen von Websites angeschrieben und sie auf den Einsatz einer Schriftart, die von Google-Servern aus den USA geladen wird, aufmerksam gemacht. Er hat das im Namen einer Mandantin gemacht, die beim Surfen eben dieser 26.000 Websites Unwohlsein verspürt habe, weil ihre personenbezogenen Daten durch den Einsatz von Google-Fonts in die USA übertragen wurden. Niemand, das frage ich mich bis heute, würde so viele Websites ansurfen, wenn er dabei Unwohlsein verspürt, ohne Script- und Trackingblocker auf seinem System zu installieren, aber manchmal muss man halt 26.000 Mal auf die heiße Herdplatte greifen, um Unwohlsein verspüren und Entschädigungszahlungen erhalten zu können. Aber das ist meine Meinung und tut hier nichts zur Sache.
Gegen eine Zahlung von 190 Euro und den Nachweis der technischen Behebung der fälschlichen Schrifteinbettung, so das Schreiben des Abmahnanwalts, wäre die Sache aus der Welt. Wer sich durch das Schreiben zu unrecht angegriffen sieht, kann dagegen den Rechtsweg begehen und klagen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde der Streitwert im Schreiben gleich mit 6.000 Euro beziffert. In anderen Worten – und das ist meine Wahrnehmung der Dinge: Entweder du zahlst die 190 Euro oder es wird schlagartig sehr teuer. Klingt sehr freundlich und zuvorkommend. Natürlich hinter Anwaltsprech versteckt, in der Sache jedoch für mich eindeutig.
- Das Argument des Abmahnanwalts: „Zigtausende Websites“ ignorieren den Datenschutz von 8 Millionen Österreicher:innen. Das sei „ein Datenschutzskandal sondergleichen“.
- Das Argument der Gegner:innen: Ja, der Einsatz von Google-Schriften, die aus den USA geladen werden, ist fragwürdig. Aber die Menge und die vom Abmahnanwalt offenbar bewusst gewählte Zielgruppe von EPUs und KMUs lassen die Vermutung aufkommen, dass die ganze Abmahnaktion mit „Gebührenerzielungsabsicht“ durchgeführt wurde. Zusammengerechnet kommt man nämlich auf die stolze Summe von knapp 5 Millionen Euro (190 × 26.000 = 4,94 Mio.), die man mit dieser Aktion einnehmen könnte. Da ist es wohl weniger das „Unwohlsein“, das als Motivator für die Massenaktion dient, wie der gegnerische Anwalt feststellt, sondern mehr die „Eurozeichen vor den Augen“.
Ich gehöre auch zur Gruppe derer, die eindeutig im Pool der Gegner:innen dieser Vorgangsweise zu finden sind. In meinem Bekanntenkreis hat es zwei Websitebetreiber erwischt, deren Websites vor mehr als 10 Jahren (!) erstellt wurden und für die Unternehmen keinerlei Bedeutung haben. Das waren die typischen „Visitenkarte im Internet“-Seiten, die faktisch nur aus einer Adress- und Kontaktangabe bestanden. Sie haben dafür irgendwelche vor 10 Jahren populären WordPress-Themes genutzt und ihnen war gar nicht bewusst, dass diese Themes Schriftarten von externen Servern laden würden. Wie denn auch?! Sie haben natürlich nicht schlecht geschaut als ein Schreiben „irgendeines Anwalts aus Niederösterreich“ sie nun zur Zahlung von 190 Euro zwang. (Das Bezeichnung „zwang“ kommt von ihnen, weil sie ja als Alternative deutlich teurere, rechtliche Schritte unmittelbar im Schreiben vorgelegt bekamen, entspricht aber auch meiner, zwei Absätze weiter oben geschilderten Wahrnehmung des Vorgehens.)
Viele solche oder ähnliche Fälle haben dazu geführt, dass einige Gegner:innen und vom Abmahnschreiben Betroffene eine Website unter der Domain abmahnung.wtf online gestellt haben, wo das Vorgehen und verschiedene Beispiele, die der Abmahnanwalt mit seinem Schreiben getroffen hat, aufgelistet wurden. Laut Abmahnanwalt ist das eine Hetzseite, die ihn persönlich attackiert. In seinen eigenen Worten direkt aus der Diskussion in der Sendung genommen klingt das sowieso alles ein bisschen verschwörerisch. Den Gedanken hatte ich zum ersten Mal als der Anwalt diese Kette an Argumenten vorgelegt hat:
Die allermeisten haben sich die Website programmieren lassen. Und ich habe in dieses Aufforderungsschreiben, weil ich das wusste, reingeschrieben: Wenn ihr glaubt, ihr seid nicht verantwortlich, dann regressiert euch. Dann holt euch das Geld wieder zurück. […] Und das hat dann dazu geführt, dass diese Unternehmen, die die Webseiten professionell erstellen, Angst gehabt haben. Weil die haben gesagt: „Uh, jetzt kommen viele Leute mit Regressforderungen.“ Und die, die die Webseiten erstellen, sind auch in der Werbewirtschaft. Und die haben auch Kontakte zu den Medien. Und dadurch ist es […] zu einem massiven Shitstorm gekommen. Die haben den angestachelt. Und dieser Shitstorm hat dazu geführt, dass […] vor meiner Kanzlei randaliert wurde, […] es hat mir mein Webhoster gekündigt, mein Steuerberater hat mir gekündigt, meine Bank hat mir gekündigt […] in der Nacht haben mich – bei meiner Privatadresse – Leute, Schlägertypen, aufgesucht und im Beitrag waren gerade Menschen, die eine so eine Hetzseite im Internet gemacht haben, und über diesen Schlägertypen berichtet haben. Mit dem zusammengearbeitet haben.
Die „Websitefirmen“ und ihre „Verbindungen zu den Medien“ werden aber im Laufe der Diskussion immer wichtiger, denn diese Kombination ist es, die es ermöglicht hat, auch gegen den Anwalt vorzugehen. Im Verlauf geht man in der Sendung nämlich auch auf die gegen den Abmahnanwalt eingeleiteten Ermittlungen – wenn ich es richtig verstanden habe, geht es hier um die mutmaßlich gewerbsmäßige Erpressung und den mutmaßlich schweren gewerbsmäßigen Betrug, also keine Kinkerlitzchen – ein, Anschuldigungen, die der Abmahnanwalt als Kampagne abtut, welche sich aus dem Naheverhältnis der Websitefirmen zu den Medien und deren Macht in der Öffentlichkeit ergibt.
Und dann, plötzlich, aufgrund der Menge und dieser Macht der Medien, wo eben diese Websitebetreiberfirmen, die von der Ausnutzung der Daten der Websitebesucher profitieren… deshalb haben die dann auch gesagt: okay, jetzt machen wir doch die Ermittlungen.
Wie wirkt das alles auf mich? Zuerst argumentiert der Anwalt, man würde ja eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen und wer nicht zahlen will, aber einsieht, dass er gegen geltendes Recht verstößt, solle sich an den Websitebetreiberfirmen regressieren. Die stecken alle mit der Medienbranche unter einem Hut und fahren eine Hetzkampagne gegen ihn. Ach ja, und natürlich auch gegen seine Mandantin, weil sie es ja eigentlich ist, die ein so dermaßen großes Unwohlsein gefühlt hat, dass sie sich genötigt sah, mindestens 26.000 Websites anzusurfen, Screenshots davon zu machen, einen Anwalt zu kontaktieren, der dann Briefe an die Betreiber:innen der Websites versendet, um für seine Mandantin eine Entschädigung je Website von 190 Euro zu erhalten. Der Betrag ist gerade so viel, dass man ihn bezahlt, um Ruhe zu haben, und gleichzeitig gerade so viel, dass sich die Aktion für den Abmahnanwalt bzw. seine Mandantin wohl lohnt.
Blöderweise trifft diese Aktion nun auf „das Internet“, wo man sich austauscht, darüber spricht und schnell zum Schluss kommt: das ist unschön, wie der Herr Anwalt das da zu lösen versucht. Und man kann mir persönlich noch so sehr erklären, wie das Unwohlsein über Google Fonts jemanden so dermaßen beflügeln kann, dass er – oder in dem Fall: sie – ein Programm entwickeln lässt (oder selbst programmiert), das dann… Ach, ich denke, wir haben alle dasselbe Bild über die Vorgänge im Kopf und warten jetzt nur noch, ob die Gerichte und deren Rechtsauffassung solchen Praktiken einen Riegel vorschieben oder ob das Erstellen und die Wartung einer Website hinkünftig sehr viel teurer werden wird, weil Dinge berücksichtigt werden müssen, die vielleicht erst in Zukunft relevant sein werden.
Am Samstag, jedenfalls, waren sowohl der Abmahnanwalt als auch einige Gegner:innen in der Sendung „Bürgeranwalt“ zu Gast und es lohnt sich aus mehreren Gründen, sich das anzusehen: Aufforderungsschreiben wegen Datenschutzverletzung. Wer sich das nicht geben will, der kann im Standard, in der Krone, der Kleinen Zeitung und wahrscheinlich in vielen anderen „Medien“, die mit den Websitebetreiberfirmen unter einer Decke stecken, über das traurige Schicksal eines fehlgeleiteten Versuchs, Profit aus einer misslichen Lage zu schlagen, nachlesen. Recht ist Recht und wenn eine IP-Adresse irgendwohin übertragen wird, dann ist das eine Sache. Wie man das den betroffenen Betreibern nahebringt – die WKO hatte, das kommt auch in der Sendung vor, den Vorschlag gebracht, die betroffenen Websitebetreiber mit der Aufforderung zu kontaktieren, den Missstand zu beheben (Max Schrems‘ noyb hat das zum Beispiel so gemacht) – eine gänzlich andere.
Aktualisierung am 17. März 2023
Natürlich – herrje, ORF! – ist die Sendung nicht mehr in der TVThek verfügbar, man findet sie aber auf YouTube. Eine Suche nach Bürgeranwalt, Datenschutzverletzung und dem Datum der Sendung (25.02.2023) sollte die passende Folge hervorbringen. Der relevante Teil beginnt etwa bei Minute 20.
Aktualisierung am 21. Mai 2023
Bei einer Kontoöffnung wurde festgestellt: Der Abmahnanwalt hat rund 341.000 Euro eingenommen.
Aktualisierung am 19. Juni 2023
In der Sendung „Bürgeranwalt“ vom 10. Juni 2023 wurde der Fall noch einmal kurz skizziert und ein Update vorgestellt, das weiterhin an Geschichten aus Absurdistan erinnert. Auch hier wieder ist die Sendung nicht mehr in der TVThek verfügbar, aber es gibt eine Kopie auf YouTube. Wer den Fall kennt, kann direkt zum Update springen und sich über die Aufteilung der Einnahmen am Konto des Abmahnanwalts oder das Infragestellen der Nutzung eines Crawlers wundern.