Beim Durchsehen meiner zig tausend als „später lesen“ markierten Einträge in Feedbin bzw. NetNewsWire bin ich über einen Artikel von Ruben Schade gestolpert, in dem er, sich wehmütig an die große Ära des Bloggens erinnernd, den Ruinen einer einst blühenden Blogosphäre (!) doch noch Positives abgewinnen kann. Aufgelassene Blogs sind Zeitkapseln; technisch, gestalterisch und inhaltlich.
Blogs I stumble across today are almost always abandoned. Occasionally they’ll make a reference to moving on in their last post, but the vast majority will just end abruptly with their last train of thought. [They] have existed online for a sufficient enough time that it’s feasible for them to have been abandoned for a decade or more. It’s interesting seeing the stratification from abandoned Blogger sites, then WordPress, and that brief blip of Octopress. The topics are time capsules into what people were thinking about, and their themes and layouts are a product of their time.
Abandoned blogs as time capsules, Ruben Schade
Wie ihm geht es mir auch oft. Aktuell gehaltene Blogs sind Perlen, hat ein lieber Freund letztens gemeint, und das stimmt. Man findet sie nur noch selten, freut sich aber umso mehr, wenn es irgendwo einen Ort gibt, an dem jemand seine Erlebnisse ohne Verkaufsabsicht veröffentlicht. Web-Logs, also ein öffentliches Protokoll über die Dinge, die man online als lustig, lehrreich, eine gute Idee oder zu dumm, um sie nicht zu verlinken, hält, das sind Blogs. Beiträge mit Titeln wie „Die zehn Techniken mit denen ich in einem Monat 25.000 Euro verdient habe“ das genaue Gegenteil.
2021 ist anders als 2010 oder 2000. Heute gibt es keinen Unterschied mehr zwischen online und offline, es ist ein nicht mehr voneinander loszulösendes Ganzes. Das eine funktioniert ohne das andere nicht, es ist eines. Das Potential für umso interessantere Web Logs ist heute so viel größer als noch vor zehn oder zwanzig Jahren.
Doch anstatt das zu nutzen und interessante, lustige, traurige, vor allem aber: persönliche Geschichten auf privaten Blogs zu lesen, müssen wir uns mit durchkommerzialisierten oder zumindest mit Verkaufsabsicht durchsetzten Pseudobeiträgen von Fake-Persönlichkeiten mit einem viel zu scharfen Charakterprofil abfinden, die billig nachahmen, wovon sich sogar auf Facebook ohnehin schon alle verabschiedet haben. Hallo, ich bin Peter, enthusiastischer Web-Ninja und Webtechnologie-Afficionado. Kauf mir einen Kaffee, wenn du meine Beiträge interessant findest. Oder: Jana, überzeugte Wahl-Berlinerin mit italienischen Wurzeln, schreibt hier über die Liebe und das Leben. Abonniere meinen Podcast und werde Teil meiner Community. – Man möchte sich nur noch die Hände waschen.
Und ganz abgesehen vom inhaltlichen Aspekt, gibt es dann auch noch die genutzten Technologien, Plattformen und Medien, die ein Problem sind, was übrigens auch Jason Kottke in seinem Nachruf auf Blogs gemeint hat. Auch dazu Rubenerd:
I’ve lamented the decline of blogging here for a few years now, more in terms of an industry trend. Writers are being pulled to incomprehensible Twitter threads, Medium, and Facebook to share their extended thoughts, and blog platforms are pushing people away by branding the exercise as a business activity.
Vielleicht sollte ich die Blogroll wieder einführen? Zumindest den Leserinnen und Lesern, die hier vorbeikommen, die Möglichkeit bieten, das alte Web 2.0 im Jahr 2021 zu erleben? So ganz abwegig ist die Sache nicht, habe ich doch erst vor ein paar Tagen über einen Blogroll-Block für Gutenberg gelesen. (Da kommt mir gerade, wisst ihr, junge Leserinnen und Leser, überhaupt, was eine Blogroll ist? Merkt auf: Früher, als man noch Links gesetzt hat, hat man auf Blogs oftmals auch eine Blogroll veröffentlicht. Sie war eine, meist in der Sidebar eines Blogs angesiedelte, Link-Liste von Websites und Blogs, die man regelmäßig liest und seinen Leserinnen und Lesern empfehlen wollte. Eine Blogroll war online wahrscheinlich das, was einer Freundschaftsbekundung offline entspricht. „Hier sind zehn, zwölf, zwanzig tolle Websites und Blogs, die ich euch empfehlen kann“ – das war die Aussage einer Blogroll.) Aber gut, zurück zur Zeitkapsel!
Hin und wieder sehe ich mir meine alten Blogbeiträge an und stelle auch da fest, wie sehr sich mein Blog doch verändert hat. Ich habe meine damals fast ausschließlich persönlichen Inhalte gegen allgemeinere Empfehlungen, Kritiken und andere Formate ausgetauscht, empfinde das aber rückblickend als in Ordnung. Denn die Anfangsphase dieser Seite (2003, 2004, 2006 sind nur ein paar Beispiele) war ohnehin viel zu persönlich und mehr wie ein öffentlicher Newsletter an meine Freunde verfasst. Dass sich dieser super-persönliche Newsletter mehr zu einem echten Web Log entwickelt hat, ist gut und macht heute auch mehr Spaß. „Different priorities“, meint Ruben Schade in seinem Blogpost und schließt:
But on a personal level I understand people come and go; their lives take on different priorities, or they believe—erroneously!—they’re not interesting enough. It’s still a shame when they let us glimpse their creative energy and potential, only to have it vanish.
Auf weitere zwanzig Jahre! Und möge diese, meine Site, Zeitkapsel und aktiver Blog gleichzeitig sein.