Jeder ist jemand

Michel Friedman hält "einer Partei" während einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen im Parlament den Spiegel vor. Inklusive Auswirkungen auf Twitter und sonstwo.
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Michel Friedmans Statement in „Gedenken als Frage des Dialogs und der Glaubwürdigkeit“

Das österreichische Parlament hat am 5. Mai 2023 eine Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen veranstaltet. Ein Teil des Programms war eine „Podiumsdiskussion zur Erinnerungskultur“ mit dem Untertitel „Gedenken als Frage des Dialogs und der Glaubwürdigkeit“. Der Zusatz – „…und der Glaubwürdigkeit“ – ist Österreich (das bezeichnet mehr eine Haltung als ein Land) in Reinform. Auf der einen Seite wissen wir ganz genau, was geschehen ist. Auf der anderen, aber, fühlen wir das Unbehagen, wenn uns wieder und wieder bewusst wird, dass dieses abstrakte „wissen, was geschehen ist“ so einfach in eine konkrete Schuld übersetzt werden kann, die fast alle von uns mittel-, wenn nicht sogar unmittelbar betrifft. Ja, heute noch! Denn wie geht man damit um, wenn zwei Kinder zum Spielen zusammenkommen und sich herausstellt, dass sie die Nachfahren von Täter und Opfer sind? Wie geht man damit um, wenn man heute noch Nutznießer einer Ungerechtigkeit von damals ist? Wie geht man damit um, wenn man mit der Tatsache konfrontiert wird, dass der Groß- oder Urgroßvater eine ganz andere als die liebevolle Seite hatte, die man kennt? Erinnerung ist eine harte, beschwerliche und hochgradig emotionale Sache. Ihre Kultur ein Spiegel unserer Zeit.

Und den hat der zur Podiumsdiskussion zum Thema eingeladene deutsch-französische Jurist und Philosoph Michel Friedman dem Parlament vorgehalten. Ein von ihm vorgebrachtes Statement – ich habe das Video oben auf genau diesen Zeitstempel gesetzt – wurde auf Twitter gepostet und erregt nun die Gemüter. Es war nicht, was man sich erwartet hatte, es war nicht, wovon man in Österreich ausgegangen ist, Michel Friedman hat wohl den Erwartungen – oder muss man „Anforderungen“ sagen? – nicht entsprochen.

Wenn der Jude an Holocaustgedenktagen spricht, hat er zu entsprechen. Er hat Rücksicht zu sichten, ja nachsichtig zu sein. Seine Worte sollen ihr Gewicht an den richtigen Stellen vermissen lassen […] Was er sagen soll, soll […] geradezu entlastend für die Versammelten sein, denn dafür wurde er schließlich eingeladen: um die Kirsche auf der festlichen Nie-wieder-Torte zu bilden […] Der Jude soll die gute Miene zum unguten Spiel garantieren. Ein wenig dankbar sein soll der Jude auch, immerhin wurde er von wichtigen Persönlichkeiten eingeladen, über den Schmerz seines Verlustes zu sprechen, damit der schöne Schein gewahrt werden kann.

Julya Rabinowich

Doch was spricht Michel Friedman? Warum verursacht sein Statement so großes Unbehagen? Warum grätscht die Moderatorin fast schon dazwischen und fühlt sich bemüßigt, sein Statement mehrfach als „explizite Meinungsäußerung“ und „eindeutige Botschaft“ zu charakterisieren? Warum, ihn dazu zu bewegen, doch lieber über die verschiedenen Initiativen, die gesetzt wurden (im Sinne eines „Jetzt lass doch die Vergangenheit und schau bitte in die Zukunft!“), zu sprechen, und weniger über das, was er als massives Problem wahrnimmt (im Sinne eines „Ich kann die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein lassen, weil sie bis in die Gegenwart reicht und die Zukunft bedroht!“)?

Doch lieber über Positives sprechen und Negatives besser nicht anzusprechen. Eine österreichische Formel, eine toxische Herangehensweise, Zeichen einer kaputten Diskussionskultur. Und die Begleiterscheinung – ein empörter Aufschrei, sinngemäß ein „Man kann das ja während einer Gedenkveranstaltung doch nicht machen!“ – ist keinen Deut besser. Julya Rabinowich hat das im oben zitierten Abschnitt zur Genüge schon beschrieben. Doch woran stößt sich die Twitter-, Facebook-, Insta- und Telegram-Bubble eigentlich?

Friedman spannt in seinem Statement einen Argumentationsbogen, in dem er von George Taboris „Jeder ist jemand“, eine aus der Grundannahme der Würde des Menschen abgeleitete Formulierung, die er eine „wunderbare Übersetzung einer juristischen Sprache in eine kulturelle“ nennt, ausgehend, die gegenwärtige Politik „einer Partei“ scharf kritisiert. Diese Partei, sie wird nicht beim Namen genannt, sei „antidemokratisch“, so sein Befund, weil sie bereits eine für die Demokratie notwendige Säule, nämlich die bedingungslose Anerkennung der Würde des Menschen, ablehnt und ihre Politik auf einem geistigen Fundament errichtet, das Menschen zweiter und dritter Klasse kennt, für sie somit nicht alle „jemand“, sondern einige „niemand“ sind. Dass das im Gegensatz zu ihrer eigenen, aus der Demokratie heraus abgeleiteten Forderung steht, nämlich gehört, akzeptiert und respektiert zu werden, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, auf den zweiten umso deutlichere Bestätigung.

Es sei ein Anfang (im Sinne von „Wehret den Anfängen!“), so Friedman, da es eben diese Partei sei, die in ihrem Wahlkampf mit „rassistischen Narrativen spielt und die Würde des Menschen mit Füßen tritt“ (sinngemäß zitiert). Sie wurde dafür „nicht nur gewählt“, sondern auch noch mit einer Koalition und mit Regierungsverantwortung durch die explizit beim Namen genannte ÖVP „belohnt“, die diese Partei damit „koschert“. Dass dieser Zustand die Glaubwürdigkeit einer Veranstaltung zur Erinnerungskultur infrage stellt, läge auf der Hand: Solange Geschichte (im Sinne von Gräueltaten) in Erzählungen (im Sinne von Groß- und Urgroßvater erzählt) keinen Widerhall findet und beide zusammen in Erkenntnis aufgehen, solange wird das Ventil für die schmerzhafte Anerkennung „barbarischer Aktionen“ mit einer „weißen Tapete und Legenden kollektiv verstopft werden“.

Friedman schließt sein Argument mit dem Satz: „Wenn ich Erinnerungskultur ernst nehme, dann erwarte ich, dass dieses Haus glaubwürdiger ist, als es ist“, und er setzt seine Hoffnung auf die Jungen, die nun endlich das Ventil öffnen und es sich antun, aufzuarbeiten, wovon ihre Vorfahren profitiert und was sie totgeschwiegen haben. – Dass das Unbehagen und Kopfschütteln auslöst, wie man im Video oben gut erkennen kann, wundert mich nicht.

Und dass sich das Kopfschütteln eines Parlamentariers in persönliche Angriffe auf Twitter umwandelt, Friedman für seine Statements beschimpft und sein meiner Meinung nach für sich stehendes Argument, das der Person nicht bedarf, mit früheren Verfehlungen abgegolten wird, ist das übliche Nachspiel einer Aussage, die Ungemach und nicht „Friede, Freude, Eierkuchen“ verursacht. Ich finde das vor allem deshalb interessant, weil eben jener Widerhall, dieses Nachspiel, das ich eben beschrieben habe, der in Friedmans Rede erwähnten, „weißen Tapete und den Legenden“ entspricht, wenn ich die Sache nicht völlig falsch verstanden habe. Twitter, Facebook, Telegram… das sind Erzählungen und Legenden, die Wahrheiten in der Gegenwart schaffen. Und so ist es nicht mehr der Jurist und Philosoph Michel Friedman, der ein stimmiges und in sich schlüssiges, intellektuell herausforderndes Statement vorbringt, das genau dem, was der Sinn der Veranstaltung war – „Erinnerungskultur… als Frage der Glaubwürdigkeit“ zu diskutieren – entsprochen hat und vielleicht mit der Intention, die Debatte zu beleben, vorgebracht wurde, sondern der arrogante Paolo Pinkel, der es wagt, im Parlament (!) während einer Gedenkveranstaltung (!!) auf uns Österreicher (!!!) zu schimpfen. – Es ist schon spannend zu beobachten, wie die übliche Vorgangsweise, ein Statement zu delegitimieren, in dem der Autor des Statements diffamiert wird, immer und immer wieder greift und seit Jahrzehnten seine das kritische Denken verhindernde Kraft nicht und nicht verloren hat.

Auf der einen Seite hören wir bei Interviews und lesen in Zeitungen über den Willen zum Dialog und dass es ja nicht sein kann, dass man Menschen nur aufgrund einer Haltung – ach ja, da war ja noch Friedmans Hass ist keine Meinung-Argument – ausschließe, auf der anderen Seite dann aber Meinungen von in ihrer Person nicht mehr des Eingangs in den Diskurs würdiger Menschen genau damit begründet nicht zulässt. Wo sind wir da? Was müssen wir da denken? Weiß da jemand etwas?

Der Untertitel der auf der Gedenkveranstaltung abgehaltenen Podiumsdiskussion lautete „Gedenken als Frage des Dialogs und der Glaubwürdigkeit“ und Michel Friedman hat einen der Aspekte betont, provokant und schlüssig argumentiert. Allen damit einhergehenden Emotionen und Befindlichkeiten zum Trotz hat er die Aufgabe erfüllt. Also, Österreich, reden wir uns das jetzt bitte endlich schön und tun wir weiter wie bisher!

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