Mailchimp verliert sympathische Schrulligkeit

Wie aus einem Monat für Monat aufkommenden Moment der Zufriedenheit eine kalte und langweilige Rechnung wird. Beispiel: Mailchimp.

Letzten September hat der Finanzsoftware-Riese Inuit Mailchimp um 12 Mrd. USD gekauft. Mailchimp war immer ein äußerst sympathischer, immer etwas schrullig wirkender Service, mit dem man aber seine Arbeit – Newsletter und zugehörige Automatisierung – gut machen und sich dabei auf ein solides System verlassen konnte. Der Service wurde von einem kleinen Team geführt und war, ich denke, da gibt es keinen Widerspruch, grundsätzlich überall als Go-To-Lösung für den Versand von Newslettern bekannt. Mailchimp wurde, so zumindest mein Eindruck, bei Nutzerinnen und Nutzern durch und durch als sympathisch wahrgenommen.

Nunmehr greift der Konzern durch und langsam, aber stetig, verliert Mailchimp für mich an Sympathiewert. Es sind Kleinigkeiten, liebgewonnene Schrulligkeiten, Eigenheiten und erfrischende Inkonsistenzen, die nach und nach bereinigt werden. Was in der Theorie gut klingt (und gutes Recht des neuen Inhabers Inuit ist), entpuppt sich – und das ist für mich selbst erstaunlich – als äußerst risikoreich, denn es sind diese Schrulligkeiten und Inkonsistenzen, die in meinen Augen ein wirkmächtiges Element der Kundenbindung sind. Je mehr sie verloren gehen, umso weniger fühle ich mich Mailchimp zugeneigt, umso mehr verliert die Marke ihren nahezu unantastbaren Status als ultimative Lösung für den Newsletterversand. Ich bin kein Marketingpsychologe, aber hier geschieht etwas (zumindest bei mir), das für die Marke nicht gut ist.

Ein Beispiel: Ich war selbst erstaunt als ich vor Jahren schon plötzlich einen Rabatt von 10% auf einer meiner Monatsrechnungen vorgefunden habe, allein, weil ich in meinem Konto die Zwei-Faktor-Authentifizierung aktiviert habe. Der Rabatt blieb seitdem aufrecht. Einfach so. Und das, seitdem ich bei Mailchimp bin und sie diese Art der Kontosicherung anbieten. Die Wirkung dieses auf jeder Monatsrechnung angeführten Rabatts hat es aber in sich. So lächerlich es auch klingen mag, aber dieser Rabatt hat, seitdem ich ihn zum ersten Mal erhalten habe, jedes Monat (!) einen kurzen Moment der Zufriedenheit in mir ausgelöst. Gut, dass ich das damals aktiviert habe! Gut, dass Mailchimp das immer noch honoriert. Unterbewusstes, Monat für Monat injiziert. Zehn Prozent Rabatt… ein Rechnungsposten, der ohne großen Mehraufwand kontinuierlich Sympathiewerte erzeugt. Wer mit Marketing zu tun hat, weiß, was für einen Aufwand es bedeutet, diese Wirkung hervorzurufen. Noch dazu Monat für Monat. Man kann es fast nicht beziffern, welchen Mehrwert so etwas hat.

Aber diese Mühen scheut der neue Inhaber ganz offensichtlich und er scheint von Dingen, die auf Rechnungen aufscheinen und den Gewinn schmälern, ganz besonders abgeneigt zu sein. Vorgestern habe ich einen Newsletter von Mailchimp erhalten, in dem der schrullige 2FA-Rabatt aufgekündigt wird.

Our two-factor authentication discount gives accounts 10% off their bill for having two-factor authentication enabled. […] Beginning May 11, 2022, we’ll limit the discount for users who enable two-factor authentication to 1 month. […] We’re retiring this discount for […] users and will no longer apply the 10% discount to their bill, beginning with their bill that falls on or after May 11.

Mailchimp Newsletter vom 19.4.2022

Es ist eine Kleinigkeit, aber aus einem Monat für Monat aufkommenden Moment der Zufriedenheit wird eine kalte und langweilige Rechnung. Mir wird der Preis bewusst werden, mir werden die vielen Alternativen, die es zu Mailchimp gibt, bewusst werden, mir werden Dinge, die mich stören, bewusst werden, ich werde – meiner bisherigen, fast schon emotionalen Bindung beraubt – mit dem kühlen Kopf des Professionisten weitere Inkonsistenzen feststellen und Schrulligkeiten als Bugs, Fehler und Störungen wahrzunehmen beginnen, die den Service immer unattraktiver machen werden.

Was ist hier geschehen? Mailchimp (oder eben Inuit) hat eine Entscheidung getroffen, die betriebswirtschaftlich natürlich Sinn macht, in meinen Augen aber Kosten aufseiten des Marketings verursachen wird. Hohe Kosten, denn der Preis von Markentreue ist kaum zu beziffern und heute auch kaum mehr existent. Wer „bindet“ sich schon an eine Marke? Aber das ist okay. Kosten fürs Marketing kann man gut in der Buchhaltung aufführen, abschreiben und argumentieren; 10% Rabatt haben Erklärungsbedarf gegenüber Controllern. Das ist eben die Welt, in der wir leben: Der monetäre Aspekt des Rabatts ist vernachlässigbar, der emotionale eine (für mich) unüberwindbare Hürde in der Wahrnehmung einer Marke. Wer ohne Kompromisse an der (unternehmerischen?) Perfektion arbeitet, aber das wissen wir ohnehin alle, verliert sie.

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