Sonntagsarabesken #108

Karamelfarbenes Haar umfängt ihr Gesicht, das Gesicht einer jungen Herzogin von Ferrara, jene scheinbar von Ghirlandaio in ewiges Halbdunkel getauchte Haut, die den Betrachter gebannt den eigenen Atem vergessen läßt. Mit den Fingern bändigt sie einige Strähnen, flüssige Bronze, streicht sie zurück hinter die Ohren, lächelt ihm zu, und in diesem einzigen unbeschreiblichen Lachen, umfangen von ihren sich öffnenden, wie immer etwas spöttisch geschürzten Lippen, sieht er eine Stadt vergangener Spätsommertage dem schwarzen Vergessensozean entsteigen. Scharf umrissen sind die Silhouetten der Kirchtürme und mittelalterlichen Häuser, kühl beschattet der Platz, die Dichterstatue in stolzer Pose; in die Nebengasse dringen letzte Strahlen der Abendsonne. Wie eine Nachtwandlerin streift ihr blasses Schattenbild durch diese Szenerie, begleitet von seiner dunklen Gestalt. Eine Abreise steht unmittelbar bevor; er muß es ihr sagen. Seine Unruhe droht ihn zu überwältigen, ihm die Stimme zu rauben, ihn stottern zu machen. Er hat Angst vor dem Moment; doch, was er noch nicht wissen kann, die Sekunde wird ungenützt verstreichen, und auch die nächste und übernächste, bis ihre gemeinsame Zeit vorbei sein und er mit gepacktem Koffer am Flughafenschalter stehen wird. Ein einziges Wort, eine Geste, ein Kuß? Nichts davon; stattdessen angeregte Unterhaltung, die das Notwendige und die Gezwungenheit seiner Bewegungen überspielen soll. Der Zauber dieser Stunden lebt ungebrochen in seiner Erinnerung, trotz des bitteren Beigeschmacks, den die weiteren Monate ihm verleihen sollten. Wieder fällt eine Strähne, streichelt in weichem Bogen die Wange, deren gesunde Frische ihn lockt, er muß sie betrachten, muß diese frühlingshafte Erscheinung bewahren, ihr Bild im eisigen Reigen der Wintertage als Wärmequelle heranziehen, darf seinen Verstand dem unwiderstehlichen Reiz nicht verschließen. Durch das schräge Obergeschoßfenster dringt von unten her ein merkwürdig silbriges Licht in den Raum, zerfasert im blauen Zigarettendunst, webt einen transparenten Schleier um ihre Schultern, ihre von dunklem Gold umkränzte Stirne, fließt zwischen die Finger, die sich mittlerweile um die Teetasse gelegt haben. Er beginnt in aller Deutlichkeit zu spüren, wie sehr sie für ihn, Kraft ihrer Erscheinung, ihrer wohl unvergänglichen Schönheit, das Gewesene verkörpert, gleichzeitig aber auch nichts anderes als eine herrliche Zukunft verspricht; eine Allegorie der Zeit, die Göttin des Absterbens und Werdens, der er ewig zu opfern geschworen hat. Er hört die Takte der Melodie, die ihn ganz nahe heranträgt an ihre Lippen, ohne dass er sie freilich berühren könnte. Die Musik verklingt im Rauschen eines vor dem Fenster vorbeifahrenden Autobusses. Der Augenblick ist vorbei. Und wird doch nie vergehen.