Sonntagsarabesken #35

Eingehüllt in kalten Wasserstaub steht sie gegen den Zaun gelehnt und wartet. Ihr Gesicht ist ausdruckslos, reglos sogar. Über eine Haarsträhne, die ihr in die Stirn gerutscht ist, perlen Regentropfen. Ihre Schuhe sind durchnäßt. Das Tageslicht hat sich hinter grauen Wolkenschleiern verborgen. Und die Musik ist verstummt. Die Fassaden der Häuser wie modernde Fratzen. Die Torbögen, klaffende Wunden, die Fenster, lidlose Augen. Sie steht gegen den Zaun gelehnt und wartet. Sie weiß nicht, dass sie beobachtet wird; und der Beobachter weiß nicht, wen er eigentlich beobachtet. Ihr Blick geht ins Leere. Sein Blick ruht auf ihrer Wange, ihrem Mund, ihren Schultern. Ihre Lippen wirken wie ein dünner Strich, sie preßt sie zusammen. Seine bewegen sich, formen lautlos Silben und Worte, die nie an ihre vom Regen berührten Ohren dringen werden. Er spricht zu ihr, die nicht hört, über ihre Schönheit und seine Liebe, über ihre Abwesenheit und sein Leben. Seine leise Verzweiflung, seine leise Stimme. Sie steht gegen den Zaun gelehnt und wartet. Ihre Gedanken sind bei dem, der schon längst erscheinen hätte müssen. Ein dunkler Schemen, der sich, so hofft sie mit wachsender Verärgerung, eigentlich im nächsten Augenblick schon hinter dem grauen Regenvorhang abzeichnen sollte. Nichts. Der Beobachter preßt ungestüm die Stirn gegen das kalte Fensterglas. Seine Augen haben die Wartende vollends eingekreist. Er sieht in ihr das Gegenüber einer weit entfernten Zeit, das Gesicht einer Kaffeehausstunde, das erschöpfte Lächeln eines Sommerabends; doch er ist sich keineswegs sicher, ob sie sich an all diese Szenen selbst noch erinnert. Vielleicht war sie eine Andere geworden. Vielleicht war sie immer eine Andere gewesen. Er umkreist sie, und sie blickt an ihm vorbei, ohne Bewußtsein, dass er es sein könnte, dessen Arm die Vorhänge auf der anderen Straßenseite bewegt. Der Regen wird heftiger. Sie steht gegen den Zaun gelehnt und wartet. Der letzte Sommer, der letzte Winter – das alles ist vorbei. Tote Zeit. Was kann sie noch erwarten von diesen quälend langen Augenblicken, die sich jetzt, ohne absehbares Ende, zu Stunden dehnen? Eine Antwort? Oder neue Fragen, neue Vorwürfe? Das Wasser läuft über ihre Brauen und von dort in ihre Augenwinkel. Tränen, die von draußen kommen. Süße Tränen. Eine gnädige Natur nimmt ihr das Weinen ab. Sogar das Weinen, denkt sie, aber nicht das schmerzvolle Hoffen. Immer hat sie Hoffnung auf bestimmte Menschen verschwendet. Mit solcher Bitterkeit läßt sich auch der kälteste Regen ertragen. Der Schatten wird nie erscheinen. Die Vorhänge fallen jetzt still, in breiten Falten. Er ist einen Schritt zurück getreten, auf dem Fenster bleibt nur der warme Abdruck seiner Haut. Jeder seiner Sätze war Fragment, selbst die glühenden Liebesschwüre. Er weiß es, deutlicher als je zuvor. Draußen rauscht und prasselt das Wasser. Seine Worte werden nie das Glas durchdringen. Sie steht gegen den Zaun gelehnt und wartet.