Sonntagsarabesken #5

Diesmal werde ich keine Geschichte erzählen; das verspreche ich. Vielleicht ist wieder die Zeit gekommen, in Selbstmitleid zu baden, aber auch dies soll heimlich und ganz im Stillen geschehen, und meine Lippen werden sich nicht verziehen im trockenen Stöhnen eines ruhelosen Gewissens; das verspreche ich. Soll ich über die Liebe schreiben? Bitte nicht! werden sich die meisten Leser denken, oder gar an dieser Stelle die Lektüre beenden, da sie voll Langeweile bereits Wetten abschließen, welches Lamento denn jetzt wieder zu erwarten sei. Aber seltsam – Bitte nicht! denke auch ich mir heute, an einem grauen kalten Tag, in Erwartung eines Föhnsturms, der aus dem Westen heranbraust, Bitte nicht! murmelt es in mir, wie das Klappern einer Gebetsmühle. Die Liebe gibt als Thema nichts mehr her. Also will ich diesmal nicht von ihr anfangen. Das verspreche ich. Symptome könnte ich schildern; Symptome einer verirrten Vergangenheit (oder einer Vergangenheit der Verirrungen?), die sich nahtlos in die undurchsichtige Gegenwart fortsetzt. Hoffnung, Freude, Mut, Schock, Enttäuschung, Resignation. In dieser Reihenfolge klingt alles schlüssig. Eine Abfolge von Gefühlskatastrophen, deren letzte die schwärzeste ist, ausweglos, denn das Verfaulen kennt nur die Zeit, die es selbst braucht, gewährt keinen Aufschub und auch keine Abkürzung der Leiden. Die Blumen vor dem Fenster haben sich noch einmal erholt, im warmen Luftzug. Doch eisiger Todesstoß ist nicht fern. Näher als je zuvor, aber die Blüten recken sich dennoch mit verzweifelter (und unbeschwerter) Lebenslust der fahlen Sonne entgegen. „Fahl“ wird die Sonne immer dann, wenn das Gemüt des Schreibenden ähnlich blaß und durchsichtig und vergiftet ist. So wie meines im Augenblick? Ja. Auch ich blinzle aus entzündeten Augen in das wunderschöne Leuchten, das meine Enttäuschung umgibt, und spüre in mir die heiße Freude über diese letzte Gnade. Vergebens ist meine Blütenhoffnung in der Sterbestunde. Lockend klingt der Gesang lügnerischer Sirenen, und nichts ist größer als jener Schmerz, der auf die Zerstörung der Illusion folgt (nicht einmal der Schmerz, der diese Zerstörung ausgelöst hat, denn damals wollte man ihn nicht verstehen, so unwirklich und mystisch schien alles abzulaufen; die absolute Klarheit des zweiten Schmerzes verwundet mit gläsernem Dolch!). Verlieren und verloren werden hat nichts mehr mit dem Anfang zu tun. Schreckliche Bilder treten aus Nebeln, die man lieber in einer abseitigen Zukunft angesiedelt hätte. Sie erlangen den Stellenwert von Realität, also: Wahrheit. Jede dieser schwarzen Konturen entspricht einem Stich ins Fleisch dessen, der so gerne vergessen würde. Das Vergessen ist keine Eigenschaft, die sich trainieren ließe; im Gegenteil: Hoffnung und Illusion stemmen sich mit mächtiger Urkraft gegen den Wunsch nach einem gelöschten Gedächtnis. In dieser Mühle wird der Verstand zerrieben, langsam und unerbittlich. Das sind die Symptome, die zu beschreiben ich angetreten bin. Vielleicht hätte ich doch besser eine Geschichte erzählt?