Sonntagsarabesken #93

Märchenlandschaften erstrecken sich zwischen dem Westen Wiens und der Inneren Stadt. Regelrechte Schmerzzonen, denen über die Jahre Dutzende Geschichten aufgestempelt wurden, zerkratzte Oberflächen, milchig gewordene Scheiben, in Neonlicht geschriebene Begebenheiten und Träume, Lokale, deren in blauen Rauch gehüllte Innereien wie ein Astrolabium die Flecken sentimentaler Sternbilder bewahren. Die Zukunft aus den Organen des Vergangenen lesen. Horizonte aus flüchtiger Substanz: Abendspaziergänge über den Kohlmarkt, Hand in Hand, ohne Bewußtsein für die Schönheit des Augenblicks oder gar die Vergänglichkeit der Gegenwart, regennasse Fliederbüsche, die sich über grün lackierte Gründerzeitzäune beugen, dazu der Duft ausgelassener Tage, Rosenwände in flirrender Sommerhitze, Staub und Malereigerüche, knirschender Schnee unter eilenden Schritten, den Salzgries entlang, auf der Suche nach drei Stunden vordergründig-hintergründigen Vergnügens, und niemand darf etwas davon erfahren, genauso wenig wie von den Kaffeehausbesuchen, die unter dem Mantel der Verschwiegenheit funktionieren, um eine ohnehin zum Untergang bestimmte Bindung nicht zu gefährden. Feuchte Blätter unter dem Absatz teurer Lederschuhe, Fäulnis und herbstlich gewandete Straßen, nachts, die erste Begegnung mit dem Liebesgespenst im glasig fahlen Lichternetz der Straßenbeleuchtung, Tequila und Limetten auf dem Granitquader vor der alten Schule, nußbraune Augen, die fragend hinter schwarz gefaßten Brillengläsern glänzen, und schließlich das verfallende Palais hinter dem Schwarzenbergplatz, in dessen pompösen Sälen sich der Kreis ein erstes, unheimliches Mal zu schließen schien (um sich schon am nächsten Tag wieder in Richtung auf das Unbekannte zu öffnen). Eine Versammlung von Heutigen und Gestrigen, von abgeschlossen Geglaubtem und nie wieder Erhofftem, eine Veranstaltung wie ein historischer Ölschinken, auf dem die Protagonisten möglichst in ihren spezifischsten Gesten festgehalten, prägnant im Kern ihres Wesens erfaßt werden sollten, selbst wenn der Anlaß, zu dem sie sich eingefunden haben, nie in dieser Kombination stattgefunden hat. Die Maler verfügen über einen panoptischen Blick, ein furchtbar umfassendes Wissen um die Details, die den Masken erst Profil zu verleihen vermögen. Solch ein Künstler arbeitet in meinem Kopf an einem Panorama der gestorbenen Stadt, blutrot der Himmel, verknotet die Jahreszeiten, verschmolzen die Gesichter und Körper. Mit sicherem Strich zeichnet er die Konturen des Gestern aus verblichener Erinnerung. Meine Träume ersticken in Kälte.