Sonntagsarabesken #99

Der Gedanke könnte lauten: Verschieben wir die Liebe auf morgen! Was hindert uns denn daran? Berechtigte Furcht davor, etwas zu verpassen? Substanzlos verschwindet sie hinter den Wogen geliebter Musik! Bier sprudelt in die Gläser. Und bronzefarben ergießt sich gleich darauf die Sonne über abgeerntete Felder, wundertätiges Licht kriecht zwischen Tausende Staubpartikel, die durch das trockene Stroh tanzen. Es ist der letzte Sommer- und vielleicht bereits der erste Herbsttag. In Wien genau wie in Mährisch Budweis, in Hierapolis genau wie auf der kopflosen Insel hinter den Wolken, aus deren Rücken weiße Häuser sprießen. Hinaufschieben. Hinauszögern. Beschwörendes Gemurmel, das nie ersterben wird, solange so etwas wie Hoffnung lebt. Das derzeitige Leben, an der Kippe der Jahreszeiten und Klimazonen, gleicht der halsbrecherischen Fahrt auf regennasser Autobahn, umbraust von der Gischt, die mit weißem Schaum die Windschutzscheibe schmückt. Die Augen blind, Scheinwerfer haben sich im Wassertropfennetz gefangen, gebrochen, brechen den Blick, lähmen das Denken. Hinter den Schläfen klopft nur noch die Angst vor der nächsten Kurve. Und gleichzeitig das Hochgefühl, sich in Geschwindigkeit und Nässe aufzulösen. Ganz deutlich ist das Flüstern des Gestern zu hören, in Form zweier sich überkreuzender Stimmen, die locken und flehen und bitten, von Tränen umschattet die eine, in verführerischen Samt gekleidet die andere. Über den schartigen Hügelgrat galoppiert der Racheengel. Verkrüppelt biegen sich die Bäume gegen die Macht des Windes. Das Bild einer lange vergangenen Eisenbahnfahrt zwischen Retz und Znaim erhebt sich aus dem delphischen Rauch, während das Heute zu verblassen droht im Glanz der goldenen Tage: Harte Holzbänke als Untergrund einer Reise in das Unbekannte, und dann, auf der hoch gespannten Brücke, der Anblick Hunderter Gartenhäuschen, die der Talflanke entwachsen, über ihnen die Silhouette der Altstadt thronend, der Geruch von erhitzten Bremsen und Motoröl mischt sich mit dem Dunst der näher rückenden Stadt, während ringsum fremde Worte einen unheimlichen und zugleich märchenhaften Klangteppich weben. Jetzt gefüllte Gläser. Das Bier wird zuerst bitter, einige Jahre später jedoch wie süßer Nektar schmecken. Die Fremdheit des Ortes wird verflogen sein. Die Gefühle werden sich gewandelt haben. Ein Bündel schöner Erinnerungen ist geschnürt und abholbereit. Der Schritt aus der Haustür fällt nicht schwer, trotz des anhaltenden Regens. Ist es also tatsächlich Zeit, die Liebe auf später zu verschieben? Nein! Tote Tage lassen sich nicht mehr zum Leben erwecken. Nicht ohne Verluste. Und dieses Risiko lohnt den Aufwand nicht. Soll die Sonne doch zerfließen zwischen den Grenzen, den Verstandeslinien und den zu Kränzen geflochtenen Träumen! Aus meinem Blickfeld ist sie verschwunden. Tanzend über den Gipfeln der kopflosen Insel wärmt sie jene, die ich liebe.