Wir Content-Maschinen

Content ist das Schaffen der Möglichkeit des Verkaufs durch Anhäufung von Publikum, das Internet eine Erweiterung des Selbst. Was tun?

In Kyle Chaykas Rezension und Kommentar zu Kate Eichhorns „Content“ und Justin E.H. Smiths „The internet is not what you think it is“ – beides Bücher, die auf meiner Leseliste stehen – wird uns Menschen in unangenehmer Weise vor Augen geführt, was aus uns und unserem Umgang mit dem von uns geschaffenen Internet geworden ist. Der passende Titel dazu: How the internet turned us into content machines. Der noch viel passendere Untertitel: […] how social media traps users in a brutal race to the bottom.

Was ist Content?

Auf der einen Seite haben wir aus interessanten, zur Reflexion anregenden Texten, herausfordernden oder unterhaltsamen Musikstücken, einfach nur schönen oder verschiedene Emotionen auslösenden Kunstwerken das gemacht, was Kate Eichhorn „Content“ nennt. Eine Art Fluss, der uns dazu zwingt immer und immer wieder neuen, eben solchen „Content“ zu produzieren, dessen Sinn – und damit dessen Substanz – aber nicht im Interesse, in der Reflexion, der Herausforderung, der Unterhaltung oder der Emotion liegt, sondern in der Möglichkeit, irgendetwas dazu zu benutzen, um ein Publikum zu vergrößern und es – damit der dem Internet mittlerweile inhärenten Definition von Erfolg folgend – gewinnbringend verkaufen zu können. Content ist nicht mehr ein aus sich heraus funktionierender Inhalt, der über ein bestimmtes Medium an einen Empfänger kommuniziert wird, sondern das Schaffen der Möglichkeit, irgendetwas zu produzieren, das Publikum anhäuft und somit verkaufbar wird.

“Clickbait” has long been the term for misleading, shallow online articles that exist only to sell ads. But on today’s Internet the term could describe content across every field, from the unmarked ads on an influencer’s Instagram page to pseudonymous pop music designed to game the Spotify algorithm. […] Since so much audience attention is funnelled through social media, the most direct path to success is to cultivate a large digital following. […] Pop stars log their daily routines on TikTok. Journalists spout banal opinions on Twitter. […] All are trapped by the daily pressure to produce ancillary content—memes, selfies, shitposts—to fill an endless void.

Content wird also zur Schaffung der Möglichkeit eines Verkaufs ohne Substanz. Eine widerliche Definition, die wir verursacht haben, aber das ist nun einmal die Welt, in der wir leben. Sie ist von einer ihr innewohnenden Langeweile geprägt, vom ewigen Warten auf das „next big thing“ – sei es ein Buch, ein Musikstück, ein Gemälde, Sounds, Games, Pixel Art, ein neuer Film… Aber es kommt nichts. Stattdessen wird der immer und immer wieder selbe Müll neu produziert, frisch angestrichen und verkauft.

Mir ist das zum ersten Mal so richtig bei Avatar aufgefallen: Die Story kennen wir aus Pocahontas, nur der Anstrich war ein frischer. Das Erlebnis war auf den Anstrich (bei Avatar ganz konkret: auf die 3D-Effekte) ausgelegt, nicht aber auf die Geschichte selbst. Und so scheint es mir überall, wo ich hinsehe, zu sein. Netflix, Amazon Prime, Disney+ gehen über vor Filmen und Serien – und doch benötige ich immer länger, um irgendetwas zu finden, das mich überhaupt auch nur im Geringsten anspricht. Mit immer mehr Aufwand wird immer Anstrich produziert, mit immer mehr Budget das immer gleiche ausgerollt. Die Streamingdienste sind ein Beispiel, wenn ich mir aber die Onlinemedienlandschaft – und hier blicke ich auf die Onlinemedien, die einst Printmedien waren -, ansehe, dann interessiert mich immer weniger, wie dort was aufbereitet wird, denn am Ende sind Beiträge dort auch nur mit Beispielen, vielleicht dem ein oder anderen Foto, sonst aber oft nur mit schöneren Umschreibungen aufgefüllte Wortansammlungen zu einem Thema, das in einem Tweet mit seinen 160 (?) Zeichen genauso gut angezeigt werden konnte. Und in den meisten Fällen, von den Journalistinnen und Journalisten, auch wurde! Auch hier, also: derselbe Inhalt, nur eben nicht zeitlich, sondern in einem anderen Medium vervielfältigt. Wenn es einem Medium gelingt, die Sichtweise etwas auszubreiten, ein paar Argumente mehr hineinzubringen oder vielleicht sogar kein Stockfoto, sondern ein selbst in Auftrag gegebenes dazu abzubilden – meine Güte, das ist schon ein frischer Wind. Dass aber solche Lässlichkeiten ein frischer Wind sind, ist ein Desaster.

Wer ist das Internet?

Und was macht dieses Wiederkäuen von Bekanntem, Kopiertem, Imitiertem, bereits Gegessenem mit uns? Immerhin ernähren wir uns seit Jahren schon von diesem Müll, der uns, egal, wo wir hinsehen, vorgesetzt wird? (Hier, das nur nebenbei, findet der Wechsel zum zweiten Buch, dem von Justin Smith, statt.) Die Frage ist nicht (mehr), wie wir die Auseinandersetzung mit „Content“ umgehen und uns davor schützen, die Frage ist viel mehr, wie wir uns selbst in dieser unausweichlichen Spirale nach unten verstehen. Wer ist das Individuum, das Content konsumiert? Was macht die schlechte Ernährung mit uns? – Es ist ein unerträglicher Zustand, schreibt Justin E.H. Smith, und es gibt kein Zurück mehr.

Too much of human experience has been flattened into a single “technological portal” […] The more you use the Internet, the more your individuality warps into a brand, and your subjectivity transforms into an algorithmically plottable vector of activity. […] The Internet actually limits attention, in the sense of a deep aesthetic experience that changes the person who is engaging. The business model of digital advertising only incentivizes brief, shallow interactions […] This has had a deadening effect on all kinds of culture, from Marvel blockbusters that optimize for attention minute to minute, to automated Spotify recommendations that push one similar song after another. Cultural products and consumer habits alike increasingly conform to the structures of digital spaces.

Justin E.H. Smith

Auf Analytics basierendes Verfassen von Zeitungs- und Magazinartikeln, für Click-Through-Rates oder auf die Verweildauer optimierte Videos, schockierende oder sonstige primordialen Emotionen auslösende Bilder, Spannung aufbauende oder das despektierliche Interesse des Glotzens befriedigende Bildgalerien… ich könnte die Liste der verschiedenen Content-Types kontinuierlich erweitern. Es ist mühsam und faszinierend zugleich damit umzugehen, führt aber dazu, dass mir eine angerostete Website mit generischen Inhalten immer öfter besser gefällt als eine polierte und durchdesignte – Sven Schneider hat es in einem Tweet „durchkapitalisierte Usability-Kotze“ genannt – und damit wohl nicht nur die verschiedenen Module, die uns tagtäglich nerven gemeint, sondern auch das ihrem Einsatz gegenüber nicht mehr erbrachte Verständnis, das sich aus der Leere der dahinterliegenden Inhalte ableitet. Werbung ist okay, aber Ads vor und inmitten von Content sind eine Zumutung und werden mit Werbe- und Scriptblockern entfernt. (Was für eine lächerliche Maßnahme, eigentlich, denn das, was übrigbleibt, ist Content. Nach der neuen Definition also erst recht wieder eine Form von Werbung.) Paywalls? Klar, legitim, nicht aber, wenn dahinter Gratiscontent minderer Qualität verkauft wird.

Content statt Inhalt, flaches, wenige Momente umspannendes Anhalten des Scrollens, Wischens und Klickens statt tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Gewolltes, einfach messbares Verhalten statt nachhaltige Veränderung des Denkens und Fühlens. Wenn ich mir das in diesen zwei Sätzen vor Augen führe, dann erreichen wir mit dem, was uns geboten wird und dem, wofür wir belohnt werden, weil wir tun, was wir tun sollen – Conversion, yeah! – nicht einmal den Ansatz eines Überführens von Herausforderndem, Neuem, Unbekanntem oder Herausragendem in die Physik unserer Merkfähigkeit. Was also macht das mit uns? Ich bin der letzte, der neue Medien und neue Formen der Kommunikation in Abrede stellt, halte aber meine Position, dass die Inhalte, die kommuniziert werden, unter ihrer Form und dem gewählten Medium nicht leiden dürfen; sie sind Selbstzwecke, denen das Medium einfach nur als „Schale“ dient. Wenn sie aber ihres Selbstzwecks beraubt und auf die äußere Form der Schale reduziert werden, dann stemme ich mich dagegen.

Was sind wir?

Da sind wir also nun, im Jahr 2022, mit einem den Globus umspannenden Kommunikationsnetz, befinden uns in einem zur alltäglichen Realität gewordenen Wunschtraum der Menschheit, in dem das Ich eine technische Erweiterung – „an extension of [a] questing mind“ – erhalten hat, die es möglich macht, das gesamte Wissen, Kunst und Kultur, ja, tatsächlich alles, was der Planet an menschlichen Leistungen hervorgebracht hat, ohne Verzögerung abzurufen. Wir sind, da hat Aral Balkan schon recht, Cyborgs geworden, mit einer ganzen Menge hausgemachter Probleme, unsere bewusste oder unbewusste, intellektuelle oder emotionale Fortbildung von nun an als eines mehr. Denn anstatt aus bereits Existierendem Neues zu schaffen, Interessantes, den Wissensstand jeglicher Form Erweiterndes, geben wir uns mit einem neuen Anstrich, einer neuen Verpackung zufrieden. Das allerdings zu erkennen und einen Weg zu finden, es zu umgehen oder gar grundlegend zu ändern, ist eine Aufgabe und Leistung, die wir alle selbst vollbringen müssen. Ja, richtig gelesen: das Internet und die darin veröffentlichten Inhalte auf eine Art und Weise nutzbar zu machen, die uns weiterbringt, also einen Weg einschlagen, der uns von kurzen, schalen Interaktionsmomenten („Like!„) hin zu einer uns nachhaltig verändernden, tiefgehenden, ästhetischen Erfahrung bringt, ist ein Akt der Selbsterkenntnis.

Wiedereinmal.

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