Ein warmer Schlauch ðŸ˜˜

Sherry Ning hat einen Essay über die Sanftheit unserer Wesen geschrieben, das mit einem Schlauch beginnt und mit vielen Denkanstößen endet.

Manchmal, wenn man auf X, Mastodon oder in sonst einem Social Network unterwegs ist, stößt man auf Zitate unterschiedlichster Quellen, die einen sofort einnehmen. Sei es, weil einen die Neugier packt, oder sei es, weil man etwas gelesen oder gesehen hat, das einen emotional – in die eine oder die andere Richtung – berührt. Leider, in fast allen Fällen, wird einem oft nur ein Screenshot eines Textes ohne Angabe der Quelle angezeigt. Im schlimmsten Fall hat irgendein Trottel den Screenshot auch noch auf seinem riesigen Bildschirm angefertigt und dabei den Browser auch noch im Vollbildmodus vergrößert gehabt; aus einem Mehrzeiler wird ein Ein- oder Zweizeiler mit jeweils 50 Wörtern pro Zeile. Aber sei’s drum. In jedem Fall fehlt die Quelle.

Ich bin gestern im X-Account von Sherry Ning auf eine Passage gestoßen, die so dermaßen absurd war, dass ich sie hier – geteiltes Leid ist halbes Leid, danke für eure Hilfe – wiedergeben muss. Die beiden Screenshots eines Text-Ausschnitts waren mit den Worten „on kissing“ betitelt.

When two people kiss, they make one long, warm tube with buttholes on both ends. Unlike the hands or the arms, the tongue is an organ that goes its entire life without expecting to ever meet a peer. So, when it does meet a fellow equal, in that dark, moist cave that no one except the dentist enters, it moves with the hesitance and wonder of Marco Polo meeting the first Mongol at the gates of Shangdu. […] Kissing is like leaning too far out a window to smell the air after it rains, like tipping your chair back just a little too much, that held breath, that little panic and pleasure all at once. Kissing is about time: how it stretches and wiggles, how it reverses object permanence so that the entire world disappears behind eyelids, how it makes the heart feel not louder but closer and bigger, as if it had climbed into the throat to listen. Kissing is about proximity, about letting someone near enough to see your pores and your dilated pupils, to inhale your ghost and taste the lie you told when you were eighteen, to press their day against yours, to blur the line between what you meant and what you did, and every kiss was both a question about love and a mercy in the face of it, a reimagination of who you were willing to become.

Sherry Ning

Mir wurde schnell klar, dass der Einstieg so absolut gar nichts mit dem Rest des Artikels zu tun haben würde, denn aus brachialem, vielleicht sogar etwas grindigem Humor erwächst in Sherry Nings Artikel, den man auf ihrer Website zur Gänze lesen kann, eine Reflexion über das Sanfte, Weiche und Leise, was auch dem Titel ihres Artikels – „Keep something soft near you“ – mehr entspricht als das „on kissing“, mit dem der Tweet betitelt ist.

Hat man also einmal die Kuss-Szene überwunden, eröffnet Sherry Nings Essay einen Bereich, den ich vielen wünsche, bei dem ich aber davon ausgehe, dass ihn nicht allzu viele erleben und fühlen können. Der erste Absatz nach dem obigen Zitat – eine Wandlung und ein Kontrastpunkt zum fast schon derben Einstieg – lautet:

And in the end, it’s about finding back a softness and letting it touch you: Softness like the inside of a rose before it opens, the breath of a Labrador resting her head on your knees, […] the worn-out collar of an old cotton shirt, the sound of books being flipped in a quiet library, […] the belly of a spoon warmed by tea, […] the few seconds of silence after a song ends and before the next one begins, […] and morning light hitting dust midair. Softness like the posture of a grandmother picking up crumbs from under your chair after lunch, the tone of a mother’s refusal to raise her voice, of a sister smoothing the hem of a dress she’d never wear outside the house, of a child rocking back and forth because that’s what we do when no one holds us…

Sherry Ning

Und worum geht es am Ende? Um die Misinterpretation von Sanftheit („softness“) als Schwäche. Ums Aufbauen von Abwehrmechanismen gegenüber dem, was unsere Sanftheit darstellt; einen unschützbaren (ja, das „ü“ ist bewusst gewählt!) Wert, eine Eigenschaft unseres Charakters, eine Notwendigkeit unseres Lebens, die wir Anderen nur ganz selten zeigen, die wir Andere nur selten spüren lassen, weil die Gefahr von Enttäuschung zu groß ist.

Wir Menschen geben viel vor zu sein, wir sind aber viel zu selten.

Sherry Ning erzählt von ihrer Tätigkeit in einer Tierarztpraxis, in der sie gezwungen war, mit Wesen zu interagieren, die das genaue Gegenteil darstellen. Sie erzählt, wie sie gelernt hat, ihre eigene Sanftheit in Handlungen und Abfolgen zu übersetzen; eine Notwendigkeit in ihrem damaligen Job, der daraus bestand, mit Tieren umzugehen, die nervös waren und beruhigt werden mussten. Sherry Ning war der natürlichen Urgewalt in kleinster Form – Katzen, Hunde, Haustiere – ausgesetzt und stellte dort schnell einiges über „Sanftheit“ fest.

I learned how to hold animals still. How to avoid fighting an angry, hissing cat because that’s a battle you never win. How to wrap a towel around a shaking body so it wouldn’t hurt itself. Animals don’t pretend, they just are. Shaking, purring, snarling, throwing up, peeing on the floor. Whatever needed doing. In general, handling pets teaches you this rule: don’t pass your fear to the animal. Be still. Be calm. Be soft.

Sherry Ning

Und nun, Jahre später, hat sie noch eine Sache gelernt. Diesmal geht es aber nicht um Tiere, sondern um Menschen. Um das So-tun-als-ob und nicht um das pure Sein. Um das, also, womit wir die meiste Zeit unseres Lebens konfrontiert sind, bevor unsere Eltern, Freunde und Bekannten alt werden und in eine Phase übergehen, die entweder von Sanftmut, aus einem glücklichen oder zumindest guten Leben genährt, oder von Bissigkeit, die sich aus einem Leben des So-tun-als-ob gebildet hat, und somit einer unerklärlichen Wut auf einen selbst geprägt ist.

Unser Umgang mit diesen Menschen, die weniger Kraft aufbringen können, ihr Normwesen (damit meine ich den fiktiven Charakter, der sich ums prätentiöse Handeln gebildet hat) aufrecht zu erhalten, zeigt wiederum unseren Charakter.

Schimpfen wir zurück, wenn der alte Mann schimpft? Oder stellen wir im Stillen fest, dass all die Wut, die aus ihm spricht, Resultat der Erkenntnis eines gescheiterten Lebenswerkes und somit dem Ende einer Familiengeschichte ist? Das Wissen, die Energie nicht aufbringen zu können, es noch einmal zu versuchen? Auch Menschen werden früher oder weniger mehr sie selbst. Und wenn die Autorin beschreibt, wie die Tiere beim Tierarzt „zittern, […] knurren, erbrechen und auf den Boden pinkeln“, dann möchte ich schon auch darauf hinweisen, dass das bei Menschen gar nicht so anders ist. Sie zittern ebenfalls, sie knurren vielleicht nicht, äußern sich aber abfällig und fangen an zu schimpfen, sie erbrechen, wenn sie mit den Nerven am Ende sind, und ja, in späteren Jahren pinkeln sie auch einfach so. Genial, wie Sherry Ning zutiefst Menschliches hinter Hunden und Katzen versteckt, wie sie die Gleichheit in der Ungleichheit ausmacht und uns allen einen Spiegel vorhält auf das, was wir sind oder früher als uns lieb ist sein werden.

And so, softness, the thing people go their entire lives mistaking for weakness, for indulgence, for something passive and pink like the inside of a seashell, softness that boys were taught to unlearn and girls, to perform but never feel, softness which was spat out of the mouth of war and law and sport as if it were a disease, it was never weakness, it was the opposite: it was the muscle that didn’t need to flex to be known, the strength in tending through the dull ache of sad afternoons, of sitting beside pain without solving it, of returning again and again to the same small rituals that keep the world from splitting open—the soft things, the forgotten things, the invisible shape of grace. And it takes more power to be kind in an unkind room than it does to win it, more courage to touch gently than to grab, to listen than to speak, to hold space than to fill it. And softness is not surrender but discipline, not fragility but form.

Sherry Ning

Und so schnell kommt man von einem Schlauch mit zwei Arschlöchern zu einem Essay über den Kern unseres menschlichen und zwischenmenschlichen Daseins, der zum Denken und Reflektieren anregt.

Prost!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Benachrichtige mich bei Reaktionen auf meinen Kommentar. Auch möglich: Abo ohne Kommentar.