Gegen Optimierungs­junkies

Anleitungen zur Selbstoptimierung sind in den meisten Fällen stark auf den Körper bezogene To-Do-Listen, die implizit oder explizit die Reflexion über den eigenen Zustand unterbinden. Vielleicht sollte man aber diese "Körper an, Geist aus" genau in sein Gegenteil verkehren.

Greg Isenberg schreibt gegen Optimierungsjunkies mit ihren absurd klingenden und vornehmlich auf Twitter und Instagram verbreiteten Lebensweisheiten, die man im Grunde genommen so zusammenfassen kann:

5AM wakeup, 15 minute cold plunge, schedule and calendar fully time blocked weeks in advance. Every second of the optimization junkie’s day is accounted for before they even wake up.

Dem gegenüber stellt er die Aussage eines (nicht näher genannten) Milliardärs, die mir nicht nur viel anspruchsvoller erscheint und einen gänzlich anderen, nämlich einen holistischen Blick auf unser Leben erkennen lässt, sondern es auch allen, die sich diese Aussage zum Mantra machen wollen, frei stellt, den passenden Weg dorthin zu finden.

If you can’t get your work done between 9-6, you aren’t doing your job properly.

Was mir an diesen beiden Gegenpolen so gut gefällt? Menschen tendieren dazu, nach Form und einfachen Anleitungen zu suchen. In unzähligen Workshops und Coachings, die ich gehalten oder an denen ich teilgenommen habe, ist mir aufgefallen, dass eine Liste, die man abarbeiten kann, der Reflexion, die zu dieser Liste, die ja ein destilliertes Substrat eines langen Erkenntnisprozesses darstellt, ausnahmslos immer vorgezogen wird. Ich denke, man kann das sogar so weit spielen, dass Teilnehmer:innen an Workshops und Coachings hunderte, wenn nicht sogar tausende Euro einfach nur dafür zahlen würden, diese Liste ausgehändigt zu bekommen, der sie dann stur folgen, wo es doch den Trainer:innen und Coaches (hoffentlich) viel wichtiger ist, den Weg dorthin nachvollziehbar zu machen.

Wenn ich mir also das Statement der Optimierungsjunkies ansehe, dann sehe ich – hier stark vereinfach dargestellt – eine Abfolge von Imperativen:

  1. Wache um 5 Uhr auf!
  2. Dusche maximal 15 Minuten lang!
  3. Dusche kalt!
  4. Buche deinen Kalender aus!
  5. Es darf keine freie Minute geben!

Wer so sehr mit dem Folgen der Regeln Anderer beschäftigt ist, hat kaum Zeit für Reflexion. Wer die Zeit hätte, würde zum Beispiel bemerken, dass sich Selbstoptimierung im Sinne dieser Optimierungsjunkies häufig auf den Körper bezieht und somit in die Fußstapfen einer uralten Praxis, der Kasteiung, tritt, die – per definitionem – „freiwillige Entbehrungen und Leiden um eines höheren Gutes willen“ darstellt. Optimierungsjunkies lassen also eine alte, stark im Kontext von Religion praktizierte Form körperlicher Enthaltsamkeit neu aufleben und Menschen, denen es an Orientierung und reflexiver Kraft mangelt, finden im strikten Befolgen der Anleitungen ihre Erlösung. (Meine Güte, während ich diesen Artikel schreibe, spült es mir einen weiteren Zeitplan zur Optimierung des Tagesablaufs in die Twitter-Timeline, der sogar den Namen „Monk Mode“ trägt und alle, aber auch wirklich alle Klischees erfüllt: vom frühen Aufstehen übers kalte Duschen, bishin zu Atemübungen und konkreten Anweisungen, was wann zu essen oder zu trinken oder wann Bewegung zu absolvieren ist.)

Das ist alles nicht neu, ganz im Gegenteil. Und besonders lustig daran finde ich, dass diejenigen, die dann seit 5 Uhr munter sind und kalt geduscht haben, sich selbst tatsächlich als Anderen überlegen ansehen, weil sie die Erleuchtung gefunden oder eben den Arbeitsalltag optimiert haben, wodurch sie nun – und wer will, kann dem obigen Link zur Wikipedia abermals folgen – „innerlich frei [sind] für Höheres“. Ich schmunzle, ich denke, ich gehe.

Dem Gegenüber steht nun die Aufforderung zu tatsächlicher Optimierungsarbeit, nämlich die nicht einmal missverständlich als Anleitung zu interpretierende, sondern ausschließlich als Beurteilungskriterium zu verstehende Aussage, „Wenn du deine Arbeit nicht zwischen 9 und 18 Uhr erledigen kannst, dann machst du deinen Job falsch“.

Wie soll man mit so einem Statement umgehen ohne zu reflektieren? Reflexion ist nötig, um herauszufinden, warum man diesen Satz attraktiv findet. Reflexion ist nötig, um herauszufinden, was es eigentlich ist, das einen vor 9 Uhr oder nach 18 Uhr noch im Büro hält. Reflexion ist nötig, um herauszufinden, um man das überhaupt so will. Reflexion ist auch nötig, um dann auf vielleicht äußerst unangenehme Dinge zu stoßen, die das eigene Weltbild potentiell verändern könnten…, die – und das ist besonders unangenehm – die eigenen Fehler, das eigene Versagen, aber eben auch die eigenen Stärken, die vielleicht woanders liegen als man vermuten würde, hervorbringen.

Was auf den ersten Blick unangenehm und wie eine therapeutische Reise ins Unterbewusste klingt, hat aber auch einen sehr schönen, hellen Aspekt. Greg Isenberg beleuchtet in seinem Substack die angenehmen Dinge, die aus dieser Reflexionsarbeit hervorgehen. Er schreibt beispielsweise, wie er die gewonnene Zeit nützt, um sein Leben voll auskosten zu können oder, wie er die freigewordene Zeit nützt, um sich seinem Newsletter zu widmen. Ein Gedanke, übrigens, den ich sehr gut nachvollziehen kann, da ich meine freie Zeit auch gerne mit dem Schreiben dieses Blogs verbringe. Was auf den ersten Blick (einem Optimierungsjunkie) als müßiger Zeitvertreib erscheint, stellt für mich aber einen essentiellen Bestandteil herauszufinden, was ich denke, dar. Die Gegensätzlichkeit von Optimieren und Denken kann augenscheinlicher fast nicht sein.

It’s a choice to consciously shift the rhythm of life, embracing a more balanced and deeply meaningful existence by slowing things down and savoring the world around us, as well as the wealth of what we already possess. […] I also put aside weekly time for this newsletter, which became less of a chore and more of a tranquil space for my thoughts. […] Contrary to popular belief, these game-changing insights don’t always spring from high-pressure brainstorming sessions or late-night cramming. More often, they seep into consciousness during moments of quiet contemplation […] There’s a reason so many good ideas come to people in the shower. Your brain needs a little space to think.

Reflexion ist eine gute Sache, auch wenn sie zu schmerzhafter Erkenntnis führen kann. Und alle, die einen davon ablenken wollen, in dem sie Lebensweisheiten als Fastfood in To-Do-Listenform präsentieren, sollte man meiden. Oder anders: Wenn es leicht wirkt und eigenständiges Denken ausdrücklich nicht nötig ist, um einer „lebensverändernden Maßnahme“ folgen zu können, dann Finger weg davon! Erkenntnis ist hart und tut weh. Aber es lohnt sich, immer danach zu gieren.

Aktualisierung am 31. Mai 2023

Ich habe einen Link zu einem Tweet hinzugefügt, in dem ein weiterer optimierter Tagesablauf mit dem Titel „Monk Mode“ abermals den religiösen Ursprung der Kasteiung nicht nur im Titel, sondern auch im klischeehaften Zeitablauf bestätigt. Und der Tweet, über den ich darauf gestolpert bin, wird mit einem Statement kommentiert, das einen aufwecken und den Irrsinn des sich für etwas Höheres – was, bitte?! – Aufopferns äußerst deutlich vor Augen führen sollte. Im Kommentar steht: „The only person that will remember long work hours is your kid“. Und noch schlimmer für diejenigen von uns, die keine Kinder haben: „the only person who will remember this [sic!] heroics is probably nobody“.

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