Überkommene Verkehrsregeln gefährden alle

Es sind nicht immer nur die Verkehrsteilnehmer Schuld an Unfällen. Manchmal ist die Verkehrsplanung und -regulierung so dermaßen schlecht, veraltet und überkommen, dass man eigentlich auch ihr Mitschuld geben müsste.

Ich habe herzlich auflachen müssen als ich im Standard über die Robotaxis gelesen habe, die in Chinas Millionenstadt Wuhan „für Frust und lange Staus sorgen„, weil sie sich – festhalten! – an die geltenden Verkehrsregeln halten.

Über die Stadt mit 14 Millionen Einwohnern bricht täglich eine Flut aus Mopeds und Motorrädern herein, wenn Millionen Menschen an ihren Arbeitsplatz fahren. Doch seit einiger Zeit häufen sich Staus, und auch Beschwerden nehmen zu. Der Grund sind Robotertaxis […] Oder besser: deren strenge Auslegung der Verkehrsregeln. [Sie fahren] nämlich deutlich langsamer, als es die Verkehrsteilnehmer in Wuhan gewohnt sind. Und sie fahren auch deutlich vorsichtiger.

derstandard.at

Was, aber, wenn die Gepflogenheiten im Straßenverkehr die lokalen Gegebenheiten in jederlei Hinsicht besser abdecken und somit zu weniger Problemen führen als es die aufgestellte Regeln abbilden können? Was, wenn die (Verkehrs-) Regeln schlichtweg schlecht sind, weil sie weder auf Geographie noch auf Motorisierung, die Größe der Fahrzeuge und andere Aspekte, die sich nahezu jährlich ändern, Rücksicht nehmen?

Dieser Gedanke ist gar nicht so weit hergeholt und zeigt, wie veraltete, nicht an moderne Gegebenheiten angepasste Regulierungen – sowohl für Fahrzeuge, aber eben auch für die Bemessung, Anordnung und Bauweise von Straßen (!) – nicht nur lästig sind oder „für Frust und lange Staus sorgen“, sondern tatsächlich auch Menschenleben fordern können, wie ein Verkehrsplaner in The Conversation feststellt.

When traffic engineers build an overly wide street that looks more like a freeway, and a speeding driver in a Canyonero crashes, subsequent crash data blames the driver for speeding. When traffic engineers provide lousy crosswalks separated by long distances, and someone jaywalks and gets hit by that speeding Canyonero driver, one or both of these road users will be blamed in the official crash report. And when automakers build gargantuan vehicles that can easily go double the speed limit and fill them with distracting touchscreens, crash data will still blame the road users for almost anything bad that happens. […] It also absolves traffic engineers, planners and policymakers of blame for creating a transportation system where […] the only rational choice for getting around is a car.

The Conversation

Also vielleicht sollten wir auch mehr Fokus auf einen Punkt setzen, der bislang weniger berücksichtigt wurde: Die Stadt- und Verkehrsplanung und ihre Auswirkungen auf die Automobilindustrie und das Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer. Eine Verkehrsfolgenabschätzung, sozusagen.

KI-gesteuerte Fahrzeuge wie die in Wuhan beweisen doch offensichtlich, dass die Regulierung, an die sich diese Fahrzeuge halten und zu einhundert Prozent befolgen, zu Problemen führt. Und das Statement des Verkehrsplaners ergänzt das Thema auch noch um die verkehrspsychologischen Aspekte des Straßenbaus. Vielleicht… vielleicht also, wäre es auch einmal angebracht, diejenigen mit in die Verantwortung für Unfälle zu ziehen, die Bauweisen und Verkehrssituationen am Schreibtisch genehmigt haben ohne dabei berücksichtigt, verstanden oder berechnet zu haben, was das, was sie da gerade abgesegnet haben, mit echten Verkehrsteilnehmern anstellen und wie sich die Planung auf ihre Fahrweise auswirken würde.

Ein Rennstrecke hinbauen und dann eine 30er-Begrenzung mittels Schild einfordern ist nicht nur kontraproduktiv und der Psychologie von Menschen widersprechend, sondern auch Anlass, dieser Art von Planung eine gewisse Mitschuld an potentiellen Unfällen zu geben, da sie die Verkehrsteilnehmer in eine widersprüchliche Situation bringt: die Wahrnehmung der Verkehrsgegebenheit (ein breite, wenig kurvenreiche Straße) steht in direktem Widerspruch zu einem 30er-Zone-Schild. Das geht so nicht, das kann man so nicht machen. Niemand wird auf dieser Straße die 30 km/h als „natürlich“ erleben. Und wer sich jetzt wundert, wie ich auf dieses „als natürlich erleben“ komme, der stelle sich doch bitte das genaue Gegenteil des gerade geschilderten Szenarios vor: Wenn ein Verkehrsschild 100 km/h auf einer schmalen, kurvenreichen Straße erlauben würde, auf der man keinen Überblick hat, weil überall Hindernisse in Form geparkter Autos, Häuserkanten, enger Kurven usw. im Weg sind, würde dann irgendwer tatsächlich 100 km/h fahren? Mit Sicherheit nicht. Man würde schon recht bald vorsichtiger und langsamer unterwegs sein. Die Wahrnehmung der Strecke ist entscheidender für das Fahrverhalten als die Ausschilderung.

Und dass breite Straßen zu höherer Geschwindigkeit anregen, kann ich ihn Wien häufig selbst erleben, wenn verirrte Autofahrer mit einem Tempo, das definitiv weit mehr ist als Schrittgeschwindigkeit, die innere Mariahilfer Straße von der Zweierlinie zum Gerngross stadtauswärts hochdonnern und die Fußgänger mitten in der Begegnungszone mittels Hupe oder Lichthupe aus dem Weg drängen wollen. Dieses Bedürfnis, auf breiten Straßen schnell zu fahren, kann man auch dann am eigenen Körper erleben, wenn man auf der Neustiftgasse stadtauswärts fährt und eine leere, durch ein Fahrverbot für reguläre Verkehrsteilnehmer gesperrte Spur das Gefühl einer übergroßen Straße vermittelt und zur Beschleunigung anregt.

2 Kommentare

  1. Ich würde dem gerne zwei Dinge entgegenbringen.

    In Deutschland sind wir so sozialisiert schneller Fahren als normal anzusehen. Ich finde es immer wieder bemerkenswert wie sich das Fahrgefühl in den Niederlanden ändert, weil die Menschen sich mehr an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten.

    Klar ist es ätzend auf einer Bundesstraße durch einen Ort nur 30 fahren zu können, wenn auch 50 gehen würde. Heute sind aber deutlich mehr Autos und LKW auf der Straße und die Anwohner, Fahrradfahrer und Fußgänger müssen auch geschützt werden. Es ist etwas anderes 50 alleine auf der Straße zu fahren oder mit 10 Autos.

    • Hi und danke für den Kommentar! Ich bin selbst schon einige Male in den Niederlanden unterwegs gewesen und ich denke, hier greift der zweite Punkt im Beitrag: die Straßen dort sind nicht fürs Schnellfahren gemacht. Viel mehr wird einem dort ganz offensichtlich über die Architektur/Bauweise der Straße klar gemacht, dass man als Autofahrer „nur“ ein Teil des Verkehrs ist und eben nicht einzig und allein auf der Straße.

      Und was die Anzahl der Verkehrsteilnehmer angeht, so bin ich ganz bei dir. Ich glaube nur – vor allem, nachdem ich mir das Video des Verkehrsplaners angesehen habe – nicht, dass ein Schild allein für Ordnung sorgen wird können. Berücksichtigt man aber die unterschiedlichen Wahrnehmungen, die Fußgänger, Radfahrer, Auto- und LKW-Fahrer haben und lässt diese in die Verkehrsplanung mit einfließen (!), dann könnte sich die Situation bessern. Hoffentlich.

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