Algorithmisches Boosten gefährdet die Praxis des Auffindens

Berauben uns personalisierte, algorithmisch bereitgestellte Inhalte unserer Freude am Erkunden? Der Beweggrund für eine Gesetzesinitiative motiviert mich, darüber zu schreiben.

In einem Thread auf Twitter fasst der demokratische US-Senator Chris Murphy seine Eindrücke einer Diskussion zusammen, die er mit Teenagern in Bezug auf eine von ihm mitinitiierte Gesetzesvorlage über das Verbot personalisierten, algorithmischen Boostens auf Social Media hatte. Die Gesetzesvorlage, der „Protecting Kids on Social Media Act“, wurde von insgesamt vier Senatoren (2 Demokraten, 2 Republikaner) eingebracht und soll eine rechtliche Grundlage schaffen, Social Media-Plattformen in die Pflicht zu nehmen.

The Protecting Kids on Social Media Act would require social media companies to verify the age of users and prevent children younger than 13 from using their platforms. Further, the bill would require the companies to obtain the consent of a parent or guardian before allowing teenagers under 18 on the platform. And it would prevent the companies from using personalized algorithms to promote content to underage users, cracking down on addiction and “rabbit holes” of dark and disturbing content. […] Social media companies must keep children safe and parents informed. If tech companies fail in this duty, our bill empowers the Federal Trade Commission and state attorneys general to bring a civil action against the offending platforms.

The Washington Post

Die Gesetzesinitiative wird mit einem beunruhigenden Trend begründet, den wir auch in Europa wahrnehmen können, wenngleich er hier, zumindest in meinen Augen, noch lange nicht die mediale Präsenz und die gesellschaftliche Notwendigkeit zu handeln erlangt hat: Immer mehr Jugendliche leiden immer mehr und immer öfter an durch den Konsum von Social Media verursachten, geistigen Störungen, die Ausmaße annehmen, welche von Soziolog:innen, Psycholog:innen und anderen, in diesem Gebiet Forschenden mittlerweile als bedenklich eingestuft werden. – Umso spannender die Diskussion mit den unmittelbar Betroffenen, die der Senator mit ihnen geführt hat.

In der Diskussion dürfte es hauptsächlich um einen Aspekt der Gesetzesvorlage, nämlich das personalisierte, algorithmische Boosten von Inhalten, gegangen sein, was bei den Jugendlichen scheinbar auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Sie haben „den Algorithmus“ auf YouTube, TikTok und anderen Plattformen „as essential to their lives“ verteidigt und wollten nicht einsehen, dass man Inhalte auch ohne Anwendung von Algorithmen auffinden kann. Dazu Chris Murphy:

It was as if they couldn’t contemplate having to „work“ to find fulfilling content. They saw no value in the exercise of exploration. They were perfectly content having a machine spoon feed them information, entertainment and connection. I told the kids that algorithmic boosting wasn’t essential for happiness. On the contrary, I suggested that contentment might actually come by exerting effort to achieve reward. Maybe receiving rewards on a conveyor belt is kind of numbing and empty. They weren’t convinced. As the conversation broke up, a teacher whispered to me, „These kids don’t realize how addicted they are. It’s scary.“ I thought the same thing.

Warum ich aber diesen Thread hier erwähne und mich so weit in das Fahrwasser einer Initiative eines US-amerikanischen Politikers lehne, ist weder mein Interesse an Murphys politischer Ambition, noch seine möglicherweise ideologische Motivation, die Initiative zu bewerben, sondern die in den letzten beiden Tweets erfolgte Reflexion und Erkenntnis, der ich durchaus etwas abgewinnen kann. Ich muss nur noch draufkommen, ob sie mich lediglich als Idee an sich interessiert oder ob ihre Beschreibung einen ohnehin in mir schlummernden, so aber noch nicht in Worte gefassten Gedanken berührt hat. Worum geht es konkret? Um den Schluss des Senators, der in der algorithmisch aufbereiteten Zurverfügungstellung von Inhalten, die Freude und Interesse auslösen, die Praxis des Auffindens solcher Inhalte in Gefahr sieht.

I don’t think it’s a coincidence that young people’s mental health has been deteriorating as social media takes over their lives. And it’s not just that kids are withdrawing from real life into their screens. There’s something else going on. A vital part of childhood is the rituals of discovery: the journey of finding what excites you and what connects you to others. I worry that those rituals are being replaced by the algorithm. And kids are in the dark about what they have lost.

Und nun die Zwickmühle, die man schön in den dem Twitter-Thread folgenden Kommentaren abgebildet sieht: Ist die Wahrnehmung über den möglichen Verlust der Praxis des Auffindens inspirierender und motivierender Inhalte tatsächlich in Gefahr oder verstehen die, die diese Idee aufgreifen und verteidigen, die Technologie einfach nicht (mehr)?

Ich habe auf diese Frage keine Antwort, glaube aber, dass da etwas an der Motivation für die Gesetzesinitiative und dem Argument, Kinder würden durch personalisierte und algorithmisch am Fließband vorgestellte Inhalte um die Freude (und die Praxis) am Entdecken selbst beraubt werden, dran sein kann. Ich kann natürlich nicht wissen, wie die höchstpersönliche Erfahrung des Auseinandersetzens mit Neuem in eurer Jugend und Kindheit ware, liebe Leser:innen, wenn ich allerdings an meine Zeit denke, so denke ich, schwebte schon immer wieder ein Glücksmoment mit, wenn ich

  • in einem Bücherladen ein neues Buch, in dem eine fantastische Geschichte oder ein interessanter Gedanke vorgestellt wurde, gefunden habe,
  • eine mir unbekannte Strecke erfolgreich und ohne mich zu verfahren mit dem Fahrrad gefahren oder bei einer Wanderung gegangen bin,
  • online etwas gefunden habe (mit den damals noch nicht allzu sehr durch Empfehlungsalgorithmen beeinflussten Suchmaschinen), über das ich im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen habe.

Diese Beispiele mögen altbacken wirken, sie waren aber immer wieder aufkommende, kleine Momente des Erfolgs und des Glücks. Murphy hat schon recht, meine ich, wenn er das Abhandenkommen dieser Momente als Problem skizziert. Ich wüsste nicht, wie ich ohne diese Momente die Dinge getan hätte, die ich getan habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich Glücksmomente durch Verdummung oder durch das Verbot des Nutzens neuer Technologien evozieren will. Nein, stattdessen, und ich denke blauäugig und optimistisch, dass Murphy seine Leute da hinführen will, sollen diese freudigen Momente des Auffindens von Inhalten für Kinder und Jugendliche häufiger und für Erwachsene, die, außer sie wechseln in die Wissenschaft oder haben das Glück, Berufe zu haben, in denen sie solches Neues finden können, seltener werden. In anderen Worten: Das algorithmische Auffinden von Inhalten kann mit dem Alter der User mitwachsen. Denn irgendwann kommt der Moment, wo das „auf etwas stoßen“ zwar nett und schön ist, aber nicht mehr die Schwelle erreicht, die Befriedigung zu verursachen, die es noch in Kinder- und Jugendjahren erreicht hat.

Ich höre an dieser Stelle auf, denn ich bemerke, wie ich an meinem letzten Absatz selbst zu zweifeln beginne. Ob es nicht doch so ist, dass das „Auf etwas stoßen“ doch noch Glücksmomente verursacht und wir sie nur anders wahrnehmen oder interpretieren. Aber das ist auch okay so. Das hier ist ja auch nur ein Blog und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder eine abgeschlossene Diskussion. Manchmal ist es auch okay, einen Gedanken bis zu einem Punkt zu führen und ihn dann dort abzubrechen. Was das natürlich garantiert, ist eine Unzufriedenheit, die ich in dem Fall aber in Kauf nehme.

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