Die Zeit Online hat einen Gastbeitrag von Francesca Bria veröffentlicht, in dem die in diversen Stiftungen und EU-Initiativen aktive Ökonomin für die digitale Unabhängigkeit der EU plädiert und dabei das Argument aufbringt, dass es bei der Kontrolle von Technologie nicht um Meinungsfreiheit, sondern um Demokratie geht. Wir lesen den Artikel also. Die Erwartungen sind niedrig, immerhin ist Frau Bria nicht irgendwer, sondern Innovationsökonomin und Honorarprofessorin („those who can, do; those who can’t, teach“), Präsidentin des Innovationsfonds und CTO der Stadt Barcelona .
Anlassfall ist primär Elon Musk, der sich, hier zusammengefasst, (1) einer gerichtlichen Anordnung aus Brasilien widersetzte, weshalb X dort gesperrt wurde, (2) der einem Tweet von EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton, der ihn an die Vorschriften in der EU erinnerte, das Tropic Thunder-Meme („Take a big step back and literally, fuck your own face!“) nicht entgegensetzte, und (3) der die australische Regierung als „Faschisten“ bezeichnete, als diese Gesetze erließ, die die Verbreitung von Unwahrheiten in sozialen Medien eindämmen sollte. Aber auch Pawel Durow, der in Frankreich verhaftet wurde, wird als Beispiel herangezogen, da sein Messengerdienst Telegram nicht genug gegen kriminelle Aktivitäten tat. Die beiden müssen als Beispiele für demokratiegefährende Technologie oder soetwas in der Art her halten. Was genau das Problem mit den Plattformen ist, das Frau Bria kritisiert, weiß ich nicht, aber sie ist in politischen, quasi-politischen oder von der Politik finanzierten Institutionen verortet, also wird es wohl irgendetwas sein, das mit Regulierung zu tun hat.
Doch was ist die Lösung, die Francesca Bria in ihrem Gastbeitrag präsentiert? Ja, denken wir doch einmal ganz scharf nach, was für alle Probleme in der EU die Lösung ist! Was wird jetzt wohl kommen, wofür wird Frau Bria argumentieren? Wird sie für Fördertöpfe für Unternehmen plädieren, die an risikoreichen Technologien arbeiten, um den Markt zu stärken? Für die Eliminierung von Einschränkungen, die solche Investments für den privaten Markt de facto verbieten? Für eine Lockerung der Gesetzgebung, damit Unternehmen eindlich eine eigene, aber in Europa angesiedelte, Infrastruktur errichten und somit zur Manifestation eines europäischen Gegenmodells werden können? Mitnichten. Wir sind in der EU und wer, wie Frau Bria, im politischen und bürokratischen System aufsteigen oder sich darin einen Namen machen will, muss das System selbst mit den von ihm zur Verfügung gestellten Mitteln, in dem Fall mit einer für die EU typischen, pervertierten Form von Innovation am Leben halten. Da es in der EU praktisch kein Problem gibt, das als rechtliches Problem angesehen wird und für einen Hammer jedes Problem ein Nagel ist, also lautet Brias innovative Idee also…
Richtig! Wir sollen nicht etwa Geld in Form von Risikokapital in die Hand nehmen, um es Privaten zu ermöglichen, das Wagnis einzugehen und Unternehmen aufzubauen, die es mit dem Mitbewerb aus dem Nicht-EU-Ausland aufnehmen können, nein, stattdessen regulieren und planwirtschaften wir noch mehr als wir es ohnehin schon tun, und glauben ganz fest daran, dass alles gut wird, wenn Beamte sich Wirtschaftsthemen annehmen. Warum also nicht eine de facto staatliche Infrastruktur als tolle, attraktive und innovative Alternative zu Plattformen wie X oder Telegram aufbauen? Ja, genau das ist Brias Idee. Wir bauen ein EU-Twitter auf. Unter Kontrolle der Staaten. Ein an Attraktivität nicht zu überbietendes, mich so dermaßen begeisterndes Konzept, dass ich himmelhoch jauchzend den Moment ersehene, in dem ich das physische Anmeldeformular am Amt („Recht auf analoges Leben!“) für ein vollwertiges Nutzerkonto auf dieser attraktiven Plattform ausfülle, um den Zugangscode per Post geschickt zu bekommen.
In Francesca Brias Worten, die ein so dermaßen öder Politsprech sind, dass ich mich beim Lesen des Artikels bereits darüber geärgert habe, ihn je begonnen zu haben, weil meine erwartete Enttäuschung ohnehin nur bestätigt wurde:
Während Europas neue „digitale Verfassung“ durch Verordnungen wie den DSA, den AI Act und den European Media Freedom Act nach und nach in Kraft tritt, muss es unter Beweis stellen, dass seine Führungsstärke darüber hinaus geht. Es darf nicht nur die Vorschriften umsetzen, sondern muss unabhängige, demokratisch verwaltete digitale Infrastrukturen schaffen, die gesellschaftliche Werte aufrechterhalten. […] Europa muss ein eigenes autonomes europäisches digitales Governance-Modell aufbauen – eine Art Big Democracy.
Zeit Online
Ja, richtig gelesen. Francesca Bria plädiert dafür, dass das regulierende Europa es ist, das nun aktiv gestalten und einen Gegenpol zu Giganten wie Meta, Google, X, Telegram und wie sie alle heißen, errichten soll. Ein feuchter Traum juristischer Schaffenskraft; ein Albtraum für alle, die tatsächlich wirtschaften können. Aber es geht noch weiter, denn Bria zaubert das Beispiel eines europäischen Erfolgsmodells aus dem Hut: die staatlichen Rundfunkanstalten wie BBC, ARD und ZDF. Ihrem Modell folgend sollte „man“ doch „etwas“ machen.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass Regierungen Institutionen aufgebaut haben, die dem öffentlichen Interesse dienen. Nehmen wir zum Beispiel die BBC, die gegründet wurde, um unparteiische Informationen zu liefern und im öffentlichen Interesse zu handeln. Sie arbeitet, ähnlich wie die öffentlich-rechtlichen deutschen Sender ARD und ZDF, weitgehend frei von unternehmerischen Gewinnmotiven und staatlicher Einmischung. […] Die Führungsstruktur der BBC trägt mit der Aufsicht durch einen unabhängigen Verwaltungsrat dazu bei, sie vor politischer Einmischung zu schützen und ihre redaktionelle Unabhängigkeit zu bewahren. Dieses Modell zeigt, wie öffentliche Einrichtungen so gestaltet werden können, dass sie gesellschaftlichen Bedürfnissen dienen, demokratische Werte aufrechterhalten und sich sowohl kommerzieller Ausbeutung als auch politischer Manipulation widersetzen.
Zeit Online
Wenn da mal nicht der Begriff „unabhängiger Verwaltungsrat“ wäre, der – ich bin Österreicher, sehe also, was im und mit dem ORF, das ist unser kleines BBC, ARD oder ZDF – in Österreich politisch besetzt wird, wodurch niemand im Land glaubt, dass es keine politische Einmischung gibt oder die Redaktionen tatsächlich vollständige Unabhängigkeit bewahren können. (Es ist übrigens egal, ob dem so ist oder nicht. Wichtig ist, dass kaum jemand an die Unabhängigkeit glaubt. Da können die Journalistinnen und Journalisten noch so viel argumentieren und gut, objektiv und aus allen Blickwinkeln berichten. Ich selbst bin ein großer Fan der Ö1 Journale und vieler anderer Sendungen, die der ORF produziert, aber in dem Moment, in dem man bei der Besetzung einer für das Unternehmen wichtigen Position die Anwerber mit der Eigenschaft „parteinahe“ charakterisiert, ist es mit dem Glauben an die totale Unabhängigkeit vorbei.)
Sicher, ich bin überzeugt, dass es Journalistinnen und Journalisten gibt, die unabhängig sind und politischem Einfluss nur wenig ausgesetzt, aber dennoch wird das Programm, die zeitliche Anordnung oder die Dauer der verschiedenen Sendungen und Journale kontinuierlich von Menschen gemacht, die es ohne Zugehörigkeit zu einer der mächtigen Strukturen nie in die Positionen geschafft hätten, in denen sie heute verortet sind. Auf dem Papier sind die Besetzungen unpolitisch, wenn aber der gesamte Verwaltungs-, Stiftungs- oder Sonstwas-Rat in „Freundeskreise“ strukturiert ist – das ist nichts anderes als die nominelle Umgehung des Begriffs „Parteieinflussbereiche“ – und das bei BBC, ARD, ZDF und sonstwo bestimmt nicht viel anders sein wird, dann wundert es nicht, wenn es politische Parteien und andere Influencer gibt, die die Zweifel der Bevölkerung mit nur sehr wenig Aufwand nähren und diese formal unabhängigen Institutionen ganz einfach und mit viel Zustimmung als „Staatsfunk“, „Systemmedien“ oder – das ist vor allem bei denen mit den dicksten Kartoffeln sehr beliebt – „Lügenpresse“ oder „Mainstream“ bezeichnen können, während sie ihrerseits auf privaten Plattformen eigene mediale Strukturen errichten und damit ihren Sieg beflügeln. QED, dass das bisweilen zu einem potentiell groben Umbau eines staatlichen Gefüges und zu demokratiepolitisch zweifelhaften Entwicklungen führen kann.
Da sind wir also nun und lesen in einem Gastbeitrag, der an Langeweile und Captain Obvious-Statements kaum zu überbieten ist, von fast schon planwirtschaftlich wirkenden Vorschlägen, es mit den USA oder China aufzunehmen. Wir werden eine tolle, moderne, unabhängige, gleichzeitig aber „die demokratischen Werte schützende“ Infrastruktur aufbauen, meint die Expertin, und übersieht dabei, wie verloren dieser Kampf bereits ist, weil die, die soetwas aufbauen wollen, einerseits längst den Rückhalt in der Bevölkerung und deren Glauben an eine wahrhaft unabhängige Medieninfrastruktur verloren haben, andererseits ohnehin von Gesetzen, Verordnungen und Regeln blockiert werden, die von stolzen Beamten errichtet wurden, deren Wirtschaftskompetenz sich aus einem Praktikum in einer Anwalts- oder Wirtschaftsprüfungskanzlei ableitet. Jeder Teppichverkäufer, hat einmal eine meiner Uni-Lektorinen, die später Politikerin wurde, gesagt, hat mehr Wirtschaftskompetenz als diejenigen, die bei uns (in Österreich) für die wirtschaftspolitischen Agenden verantwortlich sind.
Man mag und muss wohl Elon Musk und den Schreihälsen, die Mainstream- oder Systemmedien rufen, entschieden entgegentreten und für zeitgemäße Möglichkeiten sorgen, Technologie aktiv und für alle gewinnbringend zu nutzen. Ich verstehe aber nicht, wieso nicht glasklar ist, dass in dem Moment, in dem von demokratischer Kontrolle die Rede ist, das mittlerweile gemeinhin als Zensur und als Einschränkung von Meinungsfreiheit angesehen wird und genau hierin das Problem liegt! Die Zeiten, in denen irgendwelchen Obrigkeiten irgendetwas geglaubt wurde, sind doch seit Jahrzehnten schon vorbei, warum also sollte das diesmal klappen? Wir alle fühlen uns der Wahrheit näher, wenn ein Bauer, der mit seiner Handykamera die Überflutung seiner Felder filmt und das auf Tik Tok stellt, als wenn ein Bürokrat aus seinem Büro über Maßnahmen zum Hochwasserschutz spricht. Es wäre ja nicht sachlich falsch, was zweiterer uns mitteilt, aber wir haben verlernt, uns eine Meinung zu bilden, die nicht auf Emotionen, sondern auf Fakten und deren Abstraktion basiert. Der Eindruck, den politische Einflussnahme hinterlässt, egal, wie sehr auch Räte, Vertreterinnen und sonstige Vorzeigepersonen versuchen, das zu widerlegen, führt dazu, überhaupt niemandem mehr zu trauen, grundsätzlich skeptisch zu sein und somit für eine pervertierte Form von Wissen anfällig, die sich aus plausibel klingenden Telegram-Nachrichten nährt. Wer mehr dazu wissen will, lese Ingrid Brodnig.
Es ist das individuelle Akzeptieren einer Nachricht als plausibel, das unsere Wahrnehmung und die Regeln der Welt bestimmt, und nicht mehr das von außen bestätigte, mit Fact-Checks untermauerte, bestenfalls sogar intersubjektiv nachprüfbare Wissen, das gefühlt „von oben herab“ kommuniziert wird. Es ist somit in meinen Augen nicht ein Problem, dass Big Tech für Plattformen sorgt, auf denen Schindluder getrieben wird, sondern dass wir mit zu wenig intellektuellem Instrumentarium ausgestattet werden, Schindluder als das, was es ist, zu entlarven, und mit zu vielen Nebelgranaten davon abgelenkt, das, was wirklich wichtig, relevant und für unser Leben bedeutend ist, zu erkennen. Dass diese Ablenkung perfide ausgenutzt und sogar befeuert wird, ist klar, das wissen selbst die konservativsten Verschwörungstheoretiker. Dass uns aber – Achtung, Reizwort! – nur eine Impfung in Form von Bildung schützt, die nicht auf das Vermitteln bestimmter Inhalte fokussiert ist, sondern auf das Erlenen von methodisch korekten und nachvollziehbaren Zugängen zu Wissen und der Fähigkeit zu echter kritischer Reflexion, wäre in meinen Augen ein guter Anfang, der später im Leben für deutlich weniger Ungemach sorgen würde.
Bashing gegen Unternehmer, die erfolgreiche Plattformen gegründet oder gekauft haben, oder das für die EU typische Betonregulieren bringen – wir brauchen uns nur umzusehen – nichts. Denn genau niemand wird ein langweiliges, milliardenteures EU-Twitter nützen, bei dem man sich womöglich noch mit dem digitalen Ausweis (ID Austria, irgendwer?) anmelden muss. Das ist eine Illusion. Und Frau Bria sollte ein Praktikum bei Meta, X, Tik Tok oder sonstwo machen und danach eine Replik auf ihren eigenen Artikel verfassen. Ein „Praktikum“! Nicht „eine Studie dazu lesen“! Denn bekanntlich ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis in der Praxis weit höher als in der Theorie.
Der Rant musste sein, sorry.