Twitter wird zur Jasper Mall

Soziale Medien sind öffentlich zugängliche Bereich eines sich in privater Hand befindlichen Raums. So auch Twitter, das ich gegenwärtig als Jasper Mall des Internets sehe.

Wenn ich Twitter mit irgendeinem anderen, allgemein bekannten Phänomen vergleichen sollte, dann fällt mir spontan die Jasper Mall in Alabama ein. Einst ein blühendes Einkaufszentrum mit einer Vielzahl an Geschäften, heute gerade noch irgendwie am Leben, weil dann doch der eine oder andere Store die billigen Verkaufsflächen anmietet. Die in der Dokumentation über das Einkaufszentrum gezeigte Stimmung entspricht aktuell der Stimmung auf Twitter. (Klickt jetzt bitte den Link an, seht euch den Trailer an und kommt dann, in eurer Laune etwas gedämpft, wieder hier her. Ich warte.)

Der Vergleich mit einem Einkaufszentrum ist nicht einmal von weit hergeholt. Aral Balkan hat soziale Medien schon einmal als pseudo-öffentliche Räume bezeichnet und dafür plädiert, sie zu vergemeinschaftlichen. Seine Kernaussage: Wir nehmen soziale Medien als öffentliche Räume wahr, in Wirklichkeit sind sie aber die „allgemein zugänglichen Räume“ eines privaten Grundstücks, wie eben in einem Einkaufszentrum. Wer sich nicht an die Regeln hält, fliegt raus. Und die Regeln bestimmt ein Milliardär.

The only thing that matters in the Elon Musk Twitter era is what Musk believes and does at any given moment. So if you think the future of Twitter is important, you need to come to grips with that now. [Let us] face reality on reality’s terms: One of the richest men in history bought something many of us use and like. Because he could. And now he’s going to run it based on his whims. Because he can.

Peter Kafka, Vox

Die Jünger des Milliardärs, also diejenigen, die Elon Musk bewusst oder unbewusst als Ersatzgott (so nennt ihn Scott Galloway) sehen, oder die sich, eingelullt von was auch immer, mit genügend TSLA eingedeckt haben, und damit kontinuierlich einem Bestätigungsfehler – okay, okay, ihr wisst nicht, dass „Bestätigungsfehler“ die deutsche Übersetzung für die Confirmation Bias (klingt natürlich viel cooler) ist; jetzt wisst ihr es! – unterliegen, reden sich die wirren Regulative schön und finden nichts dabei, wenn Kritiker, die dem Ersatzgott die eigenen Regeln vorhalten, mittels Kontosperrungen einfach abgedreht werden. Das wird zum Beispiel ganz besonders deutlich, wenn man sich die Regeln in Bezug auf Verortungsdaten ansieht: Auf der einen Seite hat Musk die Regel aufgestellt, dass Accounts, die nutzerbezogene Ortsdaten veröffentlichen, gesperrt werden. Gleichzeitig aber wird es wohl in Zukunft so sein, dass User ihre Ortsdaten preisgeben müssen, um die Twitter-Mall überhaupt betreten zu dürfen.

Ich finde es amüsant, die auf mich fast schon religiös wirkenden Argumente (vor allem) junger Männer mitzulesen, wenn sie sich auf eine Diskussion, die Musk-Kritik beinhaltet, einlassen. Sie treten fast schon reflexartig schützend vor ihren Ersatzgott und bellen, was das Zeug hält, um den Angreifer abzuwehren. Amüsant, das alles.

Niemand kann etwas gegen wirre Regulative, Sperren, Löschungen oder sonstige Aktionen sagen, denn es ist ein privates Grundstück, auf dessen allgemein zugänglichen Räumen wir uns tummeln. Der Eigentümer kann tun und lassen was er will, auch wenn es auf den ersten, zweiten oder dritten Blick widersprüchlich erscheint. Hier gelten keine Regeln, wie wir sie uns vorstellen. Was die Regel ist, ist der Wille des Eigentümers. Wenn der Eigentümer beschließt, dass die freie Meinungsäußerung genau dort eingeschränkt ist, wo dieses oder jenes ausgesprochen wird, dann ist das halt eben so. Wenn ein Link zu Mastodon plötzlich als gefährlich eingestuft werden kann, dann ist das halt eben so. Und wer jetzt das Gefühl hat, mir widersprechen zu müssen, lese den vorigen Absatz!

You don’t own the audience you build on social channels. One follower or one million followers – it doesn’t matter. It’s all owned by the landlord. Build your email list.

Alex Garcia

Meine Güte, heute schweife ich ab. Also noch einmal zurück zum Thema! Uns muss bewusst sein: Bis auf Randerscheinungen, die man unter Umständen als dezentral bezeichnen könnte (Fediverse?), spielt sich praktisch alles, was wir online tun, auf öffentlich zugänglichen Räumen privater Grundstücke ab. Twitter ist gerade ein Paradebeispiel. Aber auch Instagram, TikTok, Facebook und wie sie alle heißen, sind Privatgrundstücke mit öffentlich zugänglichen Räumen. Es ist egal, wieviele Userinnen und User sich auf diesen Plattformen tummeln, der Eigentümer bestimmt die Regeln, ob wir das wollen oder nicht. Wir haben kein einziges, außer das uns durch die Regulative des Eigentümers gegebene Recht irgendetwas zu tun oder zu unterlassen, aber auch dieses Recht kann uns jederzeit wieder entzogen werden.

Twitter, stellvertretend für alle sozialen Medien, aber aktuell eben im Rampenlicht, ist und bleibt ein privates Grundstück. So wie die sterbende Jasper Mall.

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