Die Aufhebung von Roe vs. Wade ist ein Privacy-Problem

Mit der Aufhebung von Roe vs. Wade wird eine mögliche Schwangerschaft zum Objekt pervertierter Vorratsdatenspeicherung. Heute sind es Schwangere, morgen gleichgeschlechtliche Paare, übermorgen die Legalität von Verhütung. Und dann?

Am 24. Juni 2022 wurde durch den Supreme Court der USA verkündet, was zuvor schon in einem Entwurf geleakt ist: Roe vs. Wade, ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus 1973 über das Erlaubtsein von Abtreibungen mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, wurde gekippt. Mir war nicht bewusst, dass das Urteil damals mit einem unerlaubten Eindringen (des Staates) in die Privatsphäre (einer Familie) begründet wurde und dass es knapp zehn Jahre zuvor im Fall Griswold vs. Connecticut (1965) ein ähnlich begründetes Urteil gab, auf das sich Roe vs. Wade bezog. In beiden Fällen war der Schutz der Privatsphäre das entscheidende Argument.

In legalizing the right to contraceptives, in Griswold v. Connecticut in 1965, the court brought up the profound privacy violations that would arise from enforcing a ban: “Would we allow the police to search the sacred precincts of marital bedrooms for telltale signs of the use of contraceptives? The very idea is repulsive to the notions of privacy surrounding the marriage relationship,” Justice William O. Douglas wrote in his opinion for the majority […] Griswold was cited as precedent eight years later in Roe v. Wade, extending constitutional protection to abortion. Once again, the court highlighted privacy, not the importance of reproductive choice, as a right. Laws against same-sex intimate relationships would be struck down on similar grounds.

We need to take back our privacy, Zeynep Tufekci

Die Privatsphäre ist also das dem Urteil zugrundeliegende Schutzrecht. Überwachung ihr Gegenteil. Die wird aber, so Jia Tolentino in einem sehr düsteren Kommentar zur Aufhebung von Roe vs. Wade, in noch nie dagewesenem Ausmaß zunehmen und in noch nie dagewesener Intensität das, was wir unter Privatsphäre verstehen, verändern. Denn war das Recht auf Abtreibung eine Ableitung aus dem Verbot des Eindringens in die Privatsphäre, wie muss dann der Wegfall eben dieses Verbots verstanden werden, wenn nicht als ein vom Recht geduldetes – und wie wir gleich sehen werden: sogar belohntes (!) – Eindringen in die Privatsphäre von Menschen?

We have entered an era not of unsafe abortion but of widespread state surveillance and criminalization—of pregnant women, […] of doctors and pharmacists and clinic staffers and volunteers and friends and family members, of anyone who comes into meaningful contact with a pregnancy that does not end in a healthy birth. […] In the states where abortion has been or will soon be banned, any pregnancy loss past an early cutoff can now potentially be investigated as a crime. Search histories, browsing histories, text messages, location data, payment data, information from period-tracking apps—prosecutors can examine all of it if they believe that the loss of a pregnancy may have been deliberate.

Jia Tolentino

Das Problem, das vermutlich in Zukunft als Begründung für ein massives Eindringen in die Privatsphäre Schwangerer herhalten wird müssen, liegt darin, dass Abtreibungen und Fehlgeburten in vielen Fällen nur schwer (wenn überhaupt) voneinander unterschieden werden können. Weiß man allerdings über den Kontext bescheid, ist der Abbruch der Schwangerschaft im ermittlungstechnischen Sinne verständlicher. Um ein „Verbrechen“ vom natürlichen Vorgang unterscheiden zu können, muss ein dichtes Netz an Informationen über die Umstände vorliegen, die ausschlaggebend dafür waren, dass es zum Schwangerschaftsabbruch gekommen ist.

Hat die Betroffene nach Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs gegoogelt, hat sie Websites von Ärztinnen und Ärzten aufgesucht, die Abtreibungen oder Information über Abtreibungen anbieten? Oder hat sie sich nach Babykleidung umgesehen und nach Möbeln für ein zukünftiges Kinderzimmer recherchiert? Um darüber bescheid zu wissen, muss dieses Verhalten aufgezeichnet und protokolliert werden – und zwar vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das hört sich nicht nur an wie eine Vorratsdatenspeicherung für Schwangere, ihre Angehörigen und Freunde, das ist sie auch. Das Ausmaß einer solchen Art von Überwachung und der zugehörige, technische Apparat sind ein feuchter Traum für alle Unternehmen, die sich mit Datenspeicherung, Datenauswertung und Verhaltensanalyse befassen, und über die dementsprechenden Technologien verfügen. Aufträge von Bundesstaaten für Überwachungs-, Protokollierungs- und Analysemaßnahmen, sowie Aufträge von privaten Vereinen und Organisationen für allgemeine und personenbezogene Marketingkampagnen sind so gut wie sicher. Eine technische Leichtigkeit mit den aktuell verfügbaren Mitteln, ein Albtraum für die Betroffenen.

Ein Bekannter von mir würde dem jetzt entgegnen, dass es doch in der Verantwortung der Betroffenen läge, auf diesen ganzen „sinnlosen Schnickschnack“ – damit ist bei ihm alles, was über ein Nokia 3310 hinausgeht – und die „vertrottelte Cloud“ zu meiden. Wer über kein Gerät verfügt, das für diese Zwecke relevante Daten produziert, und seine Daten auch nicht zentral speichert, keine Apps nutzt, mit dem man den Zyklus und andere Werte protokollieren kann, die potentiell auf Schwangerschaften hinweisen könnten, nicht auf Social Media aktiv ist – in anderen Worten: so lebt, wie man vor mehr als 20 Jahren gelebt hat – der ist sicher vor solchen Maßnahmen. Zeynep Tufekci widerspräche ihm hier ganz entschieden. Diese Apps und Systeme nicht zu nutzen, ist längst keine Option mehr:

Phone companies were caught selling their customers’ real-time location data, and it reportedly ended up in the hands of bounty hunters and stalkers. […] Turning off settings in apps doesn’t stop the phone or the cellphone company from continuing to collect location data. It’s also not that reliable. I have turned off location tracking many times in reputable apps only to be surprised to notice later that it turned itself back on because I clicked on something unrelated that, the fine print might reveal, turns location tracking back on. […] Using burner phones — which you use and discard — sounds cool but is difficult in practice. […] Even if you don’t carry a digital device and only use cash, commercially available biometric databases can carry out facial recognition at scale. […] Given the ubiquity of cameras, it will soon be difficult to walk anywhere without being algorithmically recognized. Even a mask is no barrier.

We need to take back our privacy, Zeynep Tufekci

Fundamentalisierte Politik, Pseudo-Medizin („Pregnancy Centers“) und die digitale Werbe- und Überwachungsindustrie arbeiten also in Zukunft gemeinsam gegen Frauen und ihr Recht auf und über ihren eigenen Körper. Doch es sind nicht nur sie, die munter von dieser problematischen Entscheidung profitieren.

Es gibt eine weitere Gruppe von Akteuren an, die in meinen Augen noch viel gefährlicher ist: Aus falsch verstandenem Sendungsbewusstsein, einer stark verkürzten, polarisierten und oftmals aus dubiosen Quellen genährten Weltanschauung, von unüberlegter und somit widerwärtiger Motivation getriebene Denunzianten, die auch vor physischer Gewalt als in ihrem Handlungsspielraum legitimierte Maßnahme nicht zurückschrecken. Das sind Menschen, die über die Bedingungen und Umstände, die zur Entscheidung einer Frau, eine Schwangerschaft abzubrechen, nicht bescheid wissen wollen. Das sind Personen, die ihre Handlungen aus als allen anderen Anliegen übergeordnet wahrgenommenen Werten und Richtlinien ableiten. Sie „schützen das Leben“ und nehmen sich irgendwie als von oben herab (göttlich?) legitimiert wahr, denn was kann denn jemals daran falsch sein, „das Leben“ (in Form des Ungeborenen) zu schützen?

Diesen wenig reflexiven Individuen steht mittlerweile ein Arsenal an Gadgets zur Verfügung, deren Nutzung zur Überwachung Anderer in einigen Bundesstaaten, sofern es der Ausforschung und Verfolgung von Personen mit der Intention des Schwangerschaftsabbruchs dient, rechtlich abgesichert ist und sogar gefördert (!) wird. Freiwillige Helferinnen und Helfer, gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger bleiben nehmen sich selbst als moralisch gefestigt wahr, wenn sie Mitbürgerinnen ausspionieren und nach oben melden. Sie sind dann wer! Warum, warum nur erinnert mich das so dermaßen an die Figur des Robert Billings?

The entire Internet economy is built on meticulous user tracking—of purchases, search terms—and, as laws modelled on Texas’s S.B. 8 proliferate, encouraging private citizens to file lawsuits against anyone who facilitates an abortion, self-appointed vigilantes will have no shortage of tools to track and identify suspects. (The National Right to Life Committee recently published policy recommendations for anti-abortion states that included criminal penalties for anyone who provides information about self-managed abortion “over the telephone, the internet, or any other medium of communication.”) […] Brokers sell data that make it possible to track journeys to and from any location—say, an abortion clinic in another state. In Missouri, this year, a lawmaker proposed a measure that would allow private citizens to sue anyone who helps a resident of the state get an abortion elsewhere; […] the law would reward successful plaintiffs with ten thousand dollars. The closest analogue to this kind of legislation is the Fugitive Slave Act of 1793.

Jia Tolentino

Wer sich jetzt, von Unfassbarkeit geplagt, die ungewollte Schwangerschaft einer Frau irgendwie schönreden will und wessen Gedankenwelt vor den Auswirkungen der enormen Eingriffe argumentativ und in ihrem Vorstellungsvermögen kollabiert, der sei daran erinnert, um wen es hier eigentlich geht und für wen die Aufhebung des Rechts auf Abtreibung am Ende ein Problem ist. Es geht hier nicht um Frauen, die einer gesellschaftlichen Schicht angehören oder über die finanziellen Mitteln verfügen, die es ihnen ohnehin möglich macht, jederzeit, auch gegen gültiges Gesetz, mit ihrem Körper zu tun und zu lassen, was und wie sie wollen. Es geht um das Recht darauf für alle anderen: Es geht um Schwangerschaften meist ohnehin benachteiligter Gruppen von Frauen. Mangelnde Bildung (schwanger aus Unwissenheit über das Thema Verhütung), Einbettung in Religion (schwanger, weil man nicht anders darf, bis einem plötzlich die Realität bewusst wird), Erfahrung von Gewalt (schwanger nach Vergewaltigung) oder Inzest. Oder aber Schwangerschaften von Personen, die noch nicht einmal verstehen, was eine Schwangerschaft eigentlich bedeutet, wie Jia Tolentino in ihrem Artikel festhält.

In Texas, already, children aged nine, ten, and eleven, who don’t yet understand what sex and abuse are, face forced pregnancy and childbirth after being raped.

Schwangere Kinder (!) oder die Gegend rund um Abtreibungskliniken mit der Ring-Kamera überwachen? Hobby-Datenanalysten, die sich um wenig Geld aggregierte Bewegungsdaten kaufen und mit ein wenig Aufwand auf einzelne Personen schließen und sie denunzieren können? Verfolgungsfahrten mit der 300-USD-Drohne? Endlich das Gefühl von Macht über Andere haben? Und das alles sanktioniert und teilweise sogar belohnt? Es sind düstere Zeiten, die Frauen in den USA bevorstehen.

Nur Frauen? Kaum ist Roe vs. Wade vom Höchstgericht gekippt worden, taucht in der „Concurring Opinion“ von Richter Clarence Thomas schon der nächste Fall auf, in dem auf Basis des Konzepts der Privatsphäre gewährte Rechte infrage gestellt werden. Explizit genannt werden Griswold vs. Connecticut 1965 (Recht auf Verhütung in der Ehe), Lawrence vs. Texas 2003 (Recht auf sexuelle Beziehungen von Gleichgeschlechtlichen) und Obergefell vs. Hodges 2015 (Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe). Mehr noch, in seinem Schreiben plädiert er für ein generelles Überdenken von auf gleicher oder ähnlicher Basis begründeten Entscheidungen und für die Rückführung der Entscheidungsgewalt über Gebote und Verbote zu diesen Themen zurück zu den einzelnen Bundesstaaten.

Zuerst also die Schwangeren, dann die gleichgeschlechtlichen Beziehungen, dann die Verhütung… Es fällt schwer, nicht an das Zitat von Martin Niemöller zu denken.

Jia Tolentinos Artikel im New Yorker („We’re Not Going Back to the Time Before Roe. We’re Going Somewhere Worse„) und Zeynep Tufekcis Artikel in der New York Times („We Need to Take Back Our Privacy„) sind Must-Reads für das Verständnis über den Zusammenhang von Privatsphäre, Datenschutz und Recht auf Abtreibung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert