In einem nun schon 13 Jahre alten Beitrag, in dem Matt Thompson über das „Internet of ghosts“ reflektiert, beschreibt er seinen Erstkontakt mit Napster, dem heute längst nicht mehr geläufigen, damals aber nahezu alles bestimmenden File-Sharing-Tool. Abgesehen von der Möglichkeit, praktisch jegliche Musik mit anderen zu teilen und von ihnen herunterzuladen, betont Matt einen Aspekt der Software, der einigen vielleicht nicht ganz so geläufig, für ihn aber das Killer-Feature war:
When you searched for a song on Napster, the service would present you with a list of computers carrying the tune (identified by their usernames), and you could select a user to try downloading it from. […] If you wanted to, you could peer into a user’s hard drive – this was the fascinating part. When you found a song you’d long forgotten, or a rare b-side you never even knew existed, you could peruse the rest of the user’s music library and sample their tastes. […] Surfing Napster was a completely unfamiliar feeling, like walking into a giant library filled with the bookcases of strangers. It created a social space that felt (and still feels) unique to the Internet, a space where you’re interacting not with people themselves, or even with avatars of people, but with traces of them. This sensation suffuses the entire Web, but I’ve never seen it remarked on, and I’m curious if you all have.
Matt Thompson
Das, was Matt als „Internet of ghosts“ beschreibt und damit das Browsen durch Sammlungen von Artefakten meint, die durch ihre Anordnung und Zusammensetzung einen Rückschluss auf den Menschen zulassen, der diese Sammlung erstellt hat, ist ein schöner Gedanke. Besonders gut gefällt mir der Vergleich, in dem er das Betreten der Bibliothek einer fremden Person beschreibt. „Ein Bereich, in dem man nicht mit einem Menschen selbst interagiert, sondern mit seinen Spuren.“
Wer ist dieser Mensch, der Bücher zu den Themen A, B und C hat? Was interessiert die Person, wenn in der Bibliothek Bücher zu den Themen X, Y und Z deutlich häufiger vorhanden sind als andere? Wie tickt sie, wenn sie die Bücher D, E und F als scheinbaren Widerspruch zu anderen besitzt? Woran glaubt sie? Was hat sie dazu bewogen, diese Bücher zu kaufen, aber nicht zu lesen? Wieso sind die einen Bücher mit Notizen vollgeschmiert, andere nahezu unberührt? Das Browsen im Datenschatz eines Dritten wird zum archäologischen Akt der Gegenwart.
Aber spinnen wir den Gedanken doch einmal weiter, denn so abstrakt der Vergleich mit der Bibliothek auch klingen mag – ich weiß doch eh, dass ihr alle nicht mehr lest, oder wenn, dann nur auf euren Kindles, Tolinos oder iPads -, die Ähnlichkeit mit unserem gegenwärtigen Vorgehen, wenn wir auf neue Websites, Blogs, Channels, Handles oder Profile stoßen, ist nicht zu leugnen: Wir stoßen auf einen Tweet, ein Posting, einen Artikel oder sonst ein Artefakt und sehen uns an, wer es produziert hat. Wir erhalten einen Namen oder ein Handle, sehen uns das Profil der Autorin oder des Autors an und werden in den meisten Fällen mit anderen Tweets, Postings, Artikeln, Fotos oder Videos dieser Person konfrontiert. Hier sind sie, die Artefakte der Gegenwart! Schnell wissen wir, ob das eine Stück, das unser Interesse geweckt hat, ein Ausreißer in der sonst üblichen Publikationstätigkeit dieser Person war, oder ob diese Art von Inhalt zu ihren eher regelmäßigen Erzeugnissen zählt.
Was zwischen den Zeilen steht, mache ich gerne auch explizit: Ja, wir lernen gerade eben eine Person aufgrund ihrer Datenspuren kennen. Und ja, Autorinnen und Autoren, die einen Blog (unter einer eigenen Domain) betreiben oder zumindest über eine eigene Website verfügen und ihre Bilder, Videos, Texte und Artikel nicht in den sozialen Medien verstreuen, unterstützen dieses Vermitteln eines Eindrucks noch mehr, sie machen es einfacher, sie kennen zu lernen.
Unter diesem Aspekt ist ein Blog, quasi das eigene Zuhause im Netz, was Archäologen wohl einen bemerkenswerten Fund bezeichnen würden: Hier ist eine Sammlung, ja, gar eine kuratierte Sammlung von Dingen, die eine Person produziert hat. So vieles kann man diesem Zuhause entnehmen: „Über mich“ eröffnet einen direkten Blick in die Selbstdarstellung eines Autors oder einer Autorin, die Anordnung der Beiträge, Fotos und Videos, eine präferierte Logik. Die Gestaltung und das Design der Seite sogar einen ästhetischen Aspekt.
Matt Thompson schreibt, man konnte zu Napster-Zeiten auf die Musiksammlung eines Users zugreifen und darin Lieder finden, die man längst vergessen hatte, oder eine seltene Aufnahme, von der man nicht einmal wusste, dass sie existiert, vor allem aber konnte man in der Musikbibliothek einer Person stöbern und durch ihren Musikgeschmack auf Neues und Unbekanntes stoßen. So ähnlich empfinde ich es, wenn ich neue Blogs oder andere Formen persönlicher Website entdecke: ich finde Themen, die ich längst vergessen hatte, oder eine seltene Erwähnung eines Details, an das ich längst nicht mehr gedacht hatte oder das mir sogar unbekannt war; vor allem aber kann ich in der Sammlung von Gedanken und manchmal auch Gefühlen einer Person stöbern und dadurch auf Neues oder Unbekanntes stoßen. Man braucht kein Napster, um das Entdecken von Neuem zu ermöglichen. Oft reicht ein Browser.
Die Praxis des Erkennens und Auffindens von Neuem und das Gefühl, das man empfindet, wenn man Neues findet und es womöglich auch noch das eigene Interesse weckt und einen dazu inspiriert, einem Feed, einem Thread oder einem Blog zu folgen, ist seltener geworden. Algorithmen pumpen uns halbwegs passende Meinungen, Gedanken, Texte, Bilder, Videos und Kurznachrichten in unsere Timelines, aber hin und wieder – selten, aber doch – gelingt es, auf ein Kleinod zu stoßen, von dem man vorher nicht wusste. Die Erwähnung in einem Kommentar, einem Podcast oder sonst wo, das Suchen nach dem erwähnten Link, das Finden einer Website, eines Blogs, vielleicht sogar nur im Webarchiv; dann das Stöbern, das Erkennen von Struktur, Interesse und Entwicklung – das ist kein Geister-Internet, das ist die Essenz einer gewinnbringenden Tätigkeit, der wir alle, von Apps und Algorithmen verblendet, nur noch selten nachgehen, die aber sogar der Software, die wir nutzen, ihren Namen gegeben hat. Und ich finde, wir sollten es viel öfter tun:
Im Web browsen.