Perfektion durch Imperfektion: The one that I want

Nahezu perfekt ist bereits perfekt. Der nächste Schritt würde bereits die Illusion der Perfektion zerstören.

Anlässlich des Todes von Olivia Newton John vor ein paar Tagen wurde mir eine Aufnahme eines Live-Auftritts aus 2002 mit ihrem Co-Star aus Grease – John Travolta – in meine Timeline gespült. Im Video aus 2002 singen die beiden, entspannt, längst von ihrem Erfolg gekrönt und als Stars etabliert, „The one that I want“. Für sich genommen ist der Auftritt eine Aneinanderreihung falsch getroffener Töne, zeitlich nicht ganz abgestimmter Einsätze, einer katastrophalen Tonmischung und einer aus Elementen des Originals irgendwie zusammengewürfelten Choreographie. Und das alles in einem qualitativ miserablen YouTube-Video.

Der Auftritt ist eine der besten Interpretationen des Songs, die mir je untergekommen ist.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Woran liegt das? Warum macht eine derartige Interpretation so viel mehr Spaß, warum wirkt sie so viel nachvollziehbarer als das Original aus 1978? (Obwohl das ja – altersbedingt – auch nicht schlecht ist. Herrje, wenn ich mir den Clip jetzt so ansehe, dann ist das so dermaßen cheesy, vor allem diese viel zu lange Shake Shack-Sequenz.) Kann es sein, dass Imperfektion besser, ja, „perfekter“ ist als das, was wir bislang als Perfektion angesehen haben? Je mehr ich darüber nachdenke und je mehr Beispiele mir unterkommen, desto mehr bin ich der Meinung, dass dem so ist.

In dem Moment, in dem etwas absolute Perfektion erlangt, wird es langweilig, unantastbar und somit emotional steril. So entsteht Distanz und das Perfekte entpuppt sich als Illusion. Das dahinterliegende Prinzip trifft auf so vieles zu: Produktdesign, Kunst, Sport, Hard- und Software, und ja, mittlerweile bin ich der Meinung, dass das Prinzip auch auf soziale Beziehungen und das uns über sie innewohnende Verständnis zutrifft. Die perfekte Frau, den perfekten Mann, sozusagen Elite-Partner – auch so ein Begriff, der mehr über den Zustand des selbst als über die Verfügbarkeit der Qualitätsangabe am Singlemarkt aussagt – in einer perfekten Beziehung, werden wir niemals finden, denn es ist schon perfekt, was noch einen leichten Makel hat.

Perfektion ist nämlich nur dann gegeben, wenn sie als Ziel vor uns liegt (und nicht bereits erfüllt ist). Erreicht man dieses Ziel, entfernt man sich von der Perfektion an sich, denn sie entpuppt sich als Illusion. Nähert man sich allerdings dem Ziel und bleiben nur noch wenige Schritte übrig, um es zu erreichen, dann hat man den Zustand der Perfektion bereits erreicht. Das passiert häufig, wenn wir etwas „so gut wie uns in der gegenwärtigen Situation möglich“ machen. Profis können diese Situation ausreizen, in dem sie sich der Logik der Funktion von Perfektion bewusst sind und etwas, eine Situation oder eben ein Konzert „nahezu perfekt“ machen. Ist man sich nämlich der Perfektion bewusst und präsentiert etwas absichtlich mit einem Mangel – das ist der Anschlusspunkt an „You’re the one that I want“ -, dann ist das perfekt.

Der hier schon öfter erwähnte Philosoph Slavoi Žižek hat genau zu diesem Thema ein paar ihm übliche, teils anfänglich absurd klingende, aber in ihrer Grundüberlegung valide und interessante Statements abgegeben, die man als guter Internetuser wahrscheinlich ohnehin kennt. Selbst in Bezug auf Liebe ist Imperfektion Perfektion, wie er in einem Big Think-Interview zum Thema Onlinedating verrät.

I was talking once [to a] very attractive lady […] who told me of a strange thing that happened to her. She told me that when her last lover saw her naked […] he told her: if you were just to lose three, four pounds, your body would have been perfect. And I told her: Just don’t lose three or four pounds. Because […] if she were effectively to lose three or four pounds, she wouldn’t be perfect. She would just be plain. The illusion of perfection is created precisely by this excess. It’s too much, but then you imagine, without this, it would have been perfect. If you take away this excess, you don’t get perfection.

Slavoj Žižek, Big Think

Kann man nun das gleiche Prinzip – Perfektion ist Perfektion, solange es ein paar Elemente gibt, die man noch verbessern müsste, um Perfektion zu erreichen – auf Grease und andere Auftritte anwenden? Ist es vielleicht das bewusste Inkaufnehmen solcher Fehler, das Perfektion darstellt? Ich glaube schon. Ich glaube, das Prinzip ist gut erweiterbar: Eine fast perfekte Präsentation ist eine perfekte Präsentation. Ein fast perfektes Vorstellungsgespräch ist ein perfektes Vorstellungsgespräch. Ein fast perfektes Video ist ein perfektes Video. Eine fast perfekte Beziehung ist eine perfekte Beziehung.

Solange wir danach streben, Perfektion zu erreichen, aber diesen einen, letzten Schritt nicht durchführen können, solange ist Perfektion möglich. Führen wir ihn aus oder wird er möglich, fällt die Vorstellung der Perfektion weg und sie wird somit nicht mehr erreichbar. Schade um sie. Schön wäre es gewesen.

Was für ein Ritt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert