Was bedeutet „AI first“?

"AI first" ist mittlerweile zu einem FOMO-Argument geworden. Was die meisten übersehen: AI first bedeutet, dass das, was auch immer bislang "first" war, nun nicht mehr "first" ist. Und dass Sinnloses noch schneller und effizienter zur Anwendung kommt.

Wer nicht ganz hinterm Mond lebt, wird bestimmt in den letzten Monaten und Wochen auf die Formel „AI first“ gestoßen sein. Shopify arbeitet nach dem „AI first“-Prinzip, Duolingo arbeitet „AI first“, Microsoft, Google, Meta – sie alle arbeiten „AI first“. Blickt man in die Social Media-Kanäle der großen Marketingagenturen, sofern sie denn überhaupt noch existieren, dann heißt es auch dort: AI first. Aber was heißt, ja, was bedeutet „AI first“ eigentlich?

Ist es ein Zugang zum Einsatz künstlicher Intelligenz vor allen anderen Lösungsmöglichkeiten? Ist es das Hinarbeiten auf eine rein von künstlicher Intelligenz gesteuerte Unternehmens- oder Produktentwicklung? Ist es die Integration der eigenen Services in die von OpenAI, Meta, Microsoft, Google oder Anthropic? Was will „AI first“ aussagen? Was bedeutet „AI first“?

Nun werden findige Verkäufer gefinkelter Workshops mit dem Argument daher kommen, dass „AI first“ ja nur ein Synonym für „die Zukunft“ sei. Sie verkaufen also die Angst, den Anschluss zu verpassen. FOMO1 as a Service, sozusagen. Workshop gebucht, Workshop miterlebt: ein Dude steht vorne am Whiteboard und kritzelt – wie in den 1970ern – irgendwas darauf herum. AI first.

Die CEOs der großen Softwarekonzerne predigen und frohlocken, wie „AI first“ nicht doch ihre Unternehmen sind und wieviel Quellcode ihrer Software sie doch nicht mithilfe von Künstlicher Intelligenz herstellen. Tatsächlich aber steht „AI first“ hier nur für die Kostenersparnis: Wer so tut und ganz fest dran glaubt, dass die von der KI produzierte Software gut genug funktioniert, kann sich natürlich diejenigen ersparen, die bislang Software produziert haben.

Betreiber von Angeboten, die häufig zu Supportanfragen führen (können), schwärmen von „AI first“, in dem sie die Support-Tätigkeit nunmehr von Künstlichen Intelligenzen – und nicht mehr von Menschen – durchführen lassen. Ich persönlich hasse solche KI-Bots abgrundtief, weil ich mich grundsätzlich erst an den Support wende, wenn alle Lösungen, die die Hilfe- und Support-Seiten des Unternehmens anbieten, zu keiner Lösung führen. Dann sich mit einer KI herumschlagen, die alle Schritte vorschlägt, die man längst erledigt hat, ist zermürbend. Aber: AI first.

Unmengen an AI-Slop, also von Künstlicher Intelligenz generierter „Müll-Content“, bei dem das Qualitätskriterium keinerlei Rolle mehr spielt, sondern nur noch die Formalität, mit bestimmten Eigenschaften aufzuwarten, um einem bestimmten Zweck (SEO, Conversion, Überzeugung, Angstmache, politische Beeinflussung, usw.) dienen zu können. AI first.

Deshalb glaube ich, dass ein User, der den „AI first“-Zugang von Duolingo auf LinkedIn kommentiert hat, tatsächlich auf den Punkt bringt, was AI first eigentlich bedeutet. Die Formel ist einfach und prägnant:

AI-first means customers last.

Oder „People Last“. Jedenfalls haben Menschen, die sich mit diesem Aspekt bereits beschäftigt haben, einen Eindruck formuliert, der sich auch bei mir immer stärker ausbildet: „AI first“ scheint einherzugehen mit einer Art Zusammenbruch des gesunden Menschenverstands – und das nicht nur ganz allgemein, sondern vor allem, wo es besonders weh tut, im geschäftlichen Bereich. Die Sorge, irgendetwas zu versäumen. AI first ist Angst verkleidet als Feature.

“AI First” reveals something far more dangerous than hype. It reveals fear. Imitation. And a complete loss of strategic clarity. […] “AI First” means automation before understanding. Tools before trust. Efficiency before ethics. And here’s the irony: the two most valuable assets any company has its people and its customers are the first things being sacrificed. In the name of speed. In the name of savings. In the name of not getting left behind.

Stephen Klein

Blicken wir also noch einmal zurück zum LinkedIn-Kommentar, der „AI first“ als „Customers last“ interpretiert. Mischen wir dieser Wahrnehmung von außen nun die FOMO-Analyse hinzu, die wohl jede und jeder von uns unterschreiben kann. Was ist das Resultat? Wohin führt ein Zugang zum geschäftlichen Leben, das „tools before trust“ oder, noch schlimmer, „automation before understanding“ als Leitmotive vor sich herträgt?

Ich habe das selbst bei einigen Kunden erlebt: Bevor sie problematische Entwicklungen überdacht und korrigierende Maßnahmen eingeleitet haben, haben sie jemanden ins Boot geholt, der ihnen „mit KI“ hilft, diese zweifelhaften Wege schneller zu gehen, die zum Scheitern verurteilten und in ihrer Sinnlosigkeit unglaublich scheinenden Aktionen effizienter durchzuführen. Ja, KI hilft schon, aber (momentan zumindest) nur, um noch mehr Sinnloses noch schneller zu erledigen.

AI first mag unter bestimmten Umständen durchaus sinnvoll sein, nicht aber, wenn das Quellmaterial – die Intention, der Prompt, der Anwendungszweck an sich – schon dumm, wenig kreativ oder sonst irgendwie unnütz ist. Nur, weil ich ein bestimmtes Werkzeug nutze, bedeutet das nicht, dass das Ergebnis besser wird, wenn ich selbst keine Ahnung habe, was ich da eigentlich mache.

Der Herdenmentalität genügen, ein wirklich sehr altes Konzept, das so gar nicht nach Zukunft klingt, ist ein Problem. Dem Wimpel „AI“ nachzulaufen, ist problematisch, wenn die Reflektion fehlt. Und nach wie vor gilt: Wenn es sich nicht nach Arbeit anfühlt, dann ist es keine Arbeit. Auch wenn das Werkzeug „Künstliche Intelligenz“ dafür und dabei genutzt wird.

Let’s be honest: some AI vendor or consulting firm coined a slick phrase and the whole industry panicked. Nobody wanted to be the one who “got left behind.” So we abandoned first principles. We stopped asking hard questions. We went full herd mentality. […] It’s not AI First. It’s People Last. And that’s not strategy. That’s fear in a blazer. That’s executives hoping no one notices the emperor has no clothes. It’s the industrialization of short-term thinking. The commodification of customer relationships. The erosion of culture, at scale.

Stephen Klein

Ich stimmte Stephen Klein und auch dem Kommentar auf LinkedIn jedenfalls zu, wenn sie beide mehr oder weniger, jedenfalls aber klar begründet feststellen, dass „AI first“ lediglich die Angst repräsentiert, außen vor zu bleiben. OpenAI, Microsoft, Google, Meta und Anthropic schüren diese Angst so gut sie können. Müssen sie ja auch, denn die goldenen Zeiten der Pandemie sind vorbei. Unternehmen wie Shopify oder Duolingo, die damit prahlen, „AI first“ zu arbeiten, sehen wohl Probleme heranwachsen, die sie vorzeitig mit KI eindämmen möchten. Gerade bei Duolingo, das – zumindest in meinem Freundeskreis – mehr und mehr kritisiert wird und schön langsam den Ruf verliert, auch nur im Ansatz irgendwas Essenzielles für den Spracherwerb beizutragen, muss die Flucht nach vorn ergreifen.

AI first. Das macht dann übrigens ein paar Euro pro Monat mehr für dein Abonnement bei uns. AI first. Wie, Gold? Nein, Schaufeln! Kauf mehr davon, sonst könnte jemand anderer den großen Wurf machen! Beeile dich, noch kannst du aufholen. Wieviele Schaufeln darf ich dir noch in den Warenkorb legen?

  1. FOMO: Fear of Missing Out. ↩︎

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