Wir haben das Web verloren

Das heutige Web ist nicht unseres. Anil Dashs Artikel aus 2012 ist heute aktueller denn je. Und ich kann ein bisserl sudern.

In einem vor knapp 10 Jahren veröffentlichten Artikel trauert Anil Dash dem Web, das wir verloren haben, nach. Sein Argument: Die Tech-Industrie hat uns Social Networks und einfach zu bedienende Apps (auf einfach zu bedienenden Systemen) als einen Triumph der Usability und der Ermächtigung „einfacher Leute“, am Internet partizipieren zu können, verkauft. Dass dabei einiges – nein, sehr viel! – verloren gegangen ist, wird unter dem Lärm immer neuer Features begraben. Besonders bitter ist, dass vor allem junge Menschen nicht einmal wissen, was es ist, dieses freie Internet, das sie nie kennenlernen konnten. Und wahrscheinlich, dass sie nie verstehen werden, wie sich freies Internet anfühlt. Diese glorreichen 5-10 Jahre, in denen „das Internet“ eine einzige, sich manifestierende Aufbruchsstimmung war, sind unwiederbringliche Vergangenheit.

Anil Dash nennt ein paar dieser Services und Zugänge aus eben dieser Vergangenheit, die wir entweder gar nicht mehr oder sehr wahrscheinlich nie mehr so sehen, vor allem aber nie wieder so erleben werden:

  • Flickr (das ursprüngliche Instagram) war kein „Service“, sondern eine Mischung aus sozialem Netzwerk und Quelle für Kreativität. Heute ist Flickr zwar noch aktiv, aber ein Relikt. Wer allerdings während der Jahre, in denen Flickr eine Hochblüte erlebt hat (ich würde den Zeitraum auf 2000-2010 setzen), mit dabei war, hat online und – siehe die zahlreichen Flickr-Treffen – offline eine tolle Zeit miterlebt.
  • Mit Technorati, einer „Blog-Suchmaschine“ mit einem auf Hashtags basierenden Klassifizierungssystem., konnte man herausfinden, wer – und zwar unabhängig von der genutzten Software – auf zB meine Blogbeiträge verlinkt hat. So stieß man nahezu andauernd auf viele, interessante Blogs, die thematisch ähnlich positioniert waren oder zumindest durch ehrliche Verlinkung Interesse deklariert haben.
  • Google war eine richtig gute Suchmaschine, bevor AdWords und AdSense eingeführt wurden und Hyperlinks ihren Status vom Qualitätsmerkmal zur Ramschware änderten. (Überlegt euch, liebe Leserinnen und Leser, was es bedeutet, wenn jemand zur aktuell besten Suchmaschine der Welt sagt, sie war einmal eine „richtig gute“ Suchmaschine!)
  • Single Sign-On-System waren verpönt und man setzte diesen Grad an Kontrolle an einer zentralen Stelle mit den schlimmsten Befürchtungen eines Überwachungsstaats gleich. Heute sind solche Systeme allgegenwärtig und soweit etabliert, dass wir es beizeiten als mühsam empfinden, uns neu anmelden zu müssen.
  • Es war super einfach, seine Daten von Service A zu Service B zu migrieren. Was heute unmöglich scheint, war damals überhaupt kein Problem und ein Qualitätsmerkmal verschiedener Onlineservices und -dienste.
  • Es war völlig klar, dass die eigene Online-Identität im Besitz einer Person steht und nicht der Gnade eines Services ausgeliefert ist. Man hatte eigene Websites und sehr häufig seine eigene Infrastruktur.

Kurzum: früher war alles besser.

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Nein, so weit gehe ich hier nicht, dass ich euch erkläre, wie toll nicht alles damals war. Aber an Anil Dashs zehn Jahre altem Artikel ist schon etwas dran, denn er hält einen Wert hoch, an den wir heute gar nicht mehr denken: Das Internet (konkret: das Web) als einen zur Verbesserung durch jeden und jede einzelne von uns geeigneten Raum.

Die Vorstellung, dass wir gestalten können (und nicht nur Tim Cook, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos oder, nun eben, Elon Musk), dass wir das haben, was dem in der Soziologie benutzten Begriff Agency entspricht, dass wir tatsächlich aktiv gestalten können, wirkt in einem aus Facebook, Instagram, TikTok, Twitter und Google auf einem Apple- oder Android-Device bestehenden App-Internet befremdlich, ist aber möglich und vermutlich längst überfällig. Der Eindruck trügt nämlich nicht, dass das heutige Internet, ein auf Apps basierendes Fernseh-Internet ist, das auf eingeschränkter und vorgegebener, de facto gleichgeschalteter Kreativität beruht. Es ist ein langweiliges Internet geworden. Mit gleichgeschalteten Gesichtern in gleichgeschalteten Videos auf gleichgeschalteten Plattformen. 🥱

Anil Dash war 2012, als sein Artikel erschien, noch voller Hoffnung und meinte, dass es zu einer Art Selbstreinigung des Web kommen würde, sofern es uns gelingen würde (wer ist „uns“?), diejenigen, die das „alte Web“ nicht kennen, zu unterrichten.

The technology industry, like all industries, follows cycles, and the pendulum is swinging back to the broad, empowering philosophies that underpinned the early social web. But we’re going to face a big challenge with re-educating a billion people about what the web means, akin to the years we spent as everyone moved off of AOL a decade ago, teaching them that there was so much more to the experience of the Internet than what they know.

Ich bezweifle, dass es „uns“ gelungen ist, Abermillionen von Menschen davon zu überzeugen, dass ein kleiner Aufwand es wert ist, ein großes Ganzes – das Web – wieder mit Leben zu erfüllen. Zu verführerisch sind die abertausend kleinen Einschränkungen, die wir in Kauf nehmen, um kostenlose E-Mailaccounts zu haben, gratis zu hosten, unmittelbar vernetzt zu sein. Jede noch so kleine Anstrengung ist eine Hürde, die uns im immer heißer werdenden Wasser bleiben lässt. 🐸

Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass es eine sehr dünne (und schnell alternde) Gruppe von Menschen gibt, die aus Erfahrung und aus innerer Überzeugung und Motivation heraus verstehen, was „das Web“ sein kann und daran arbeiten, das, was es heute ist, besser zu machen. Gleichzeitig gibt es aber eine Gruppe, die zwar versteht, was das Internet sein kann, aber das, was ich vorhin Agency genannt habe, gezielt in einen kostenpflichtigen Service zu lenken versucht. Benutzen ist in Ordnung, Erschaffen keinesfalls. Ja, warum denn auch nicht? Das ist alles eine riesige Zwickmühle, in der wir uns da befinden. Und mir ist kein Zugang bekannt, der uns da herausbringen würde. Wenn ich mir ansehe, wie gerade hunderte, wenn nicht tausende Twitter-Userinnen und User Mastodon ausprobieren, dann kommt das wohl dem am nächsten, was eine Überführung des corporate web in ein freies, kreatives Web entspricht. Dann aber auch wieder nicht, denn die Motivation, umzusteigen, ist keine von einem Pull-Faktor (also der Attraktivität Mastodons) bedingte, sondern ein Push-Faktor, der sich in Form des chaotischen Umgangs mit Twitter vonseiten seines Eigentümers zeigt. Aber was soll’s.

Schließen wir mit einem Abschnitt aus Anil Dash’s Artikel aus 2012.

This isn’t our web today. We’ve lost key features that we used to rely on, and worse, we’ve abandoned core values that used to be fundamental to the web world. […] Today’s social networks [have] brought in hundreds of millions of new participants to these networks, […] but they haven’t shown the web itself the respect and care it deserves, as a medium which has enabled them to succeed. And they’ve now narrowed the possibilites of the web for an entire generation of users who don’t realize how much more innovative and meaningful their experience could be.

Anil Dash

Ich gehe jetzt frustriert TikToks schauen.

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