Anfang vom Ende der sozialen Netzwerke

TikTok ist, im Gegensatz zu Facebook und anderen sozialen Netzwerken, nicht vom Social Graph abhängig. Das macht die Plattform für Userinnen und User attraktiv, auch wenn die Logik des Netzwerkeffekts eigentlich dagegen halten müsste. Der Wandel ist enorm. Und enorm spannend.

Wir brauchen nicht mehr drumherum zu reden: Wir erleben gerade den Anfang vom Ende einer Ära, die sich, das kann man nun retrospektiv sagen, über eine in Programmcode geflossene Entscheidung definiert hat, nach der höchstwahrscheinlich für mich interessant ist, was Freunde, Bekannte und Verwandte als interessant ansehen. Der Newsfeed, in den sozialen Medien der über Erfolg oder Misserfolg, Verbleib und Interaktion entscheidende, Userinnen und Usern angezeigte Fluss von originären oder geteilten Inhalten, verändert sich gerade grundlegend, denn die eben genannte Prämisse gilt nicht mehr als zuverlässig und somit für den Erfolg sozialer Medien ausschlaggebend. Der Newsfeed ändert sich.

Facebook: Abhängig vom Soziogramm

Der Newsfeed hat aber bereits eine Änderung durchgemacht: Vor Jahren schon wurde aus einem chronologisch sortierten Datenfluss ein algorithmisch nach der Wahrscheinlichkeit meiner Interaktion mit den mir gezeigten Inhalten sortierter. Das war notwendig, da die durchschnittliche Zahl von Beiträgen, mit denen ein User konfrontiert worden wäre, zu hoch war. Facebook, das hier als sinnbildlich für alle sozialen Medien steht, musste die Flut von Nachrichten also filtern und – dabei den Geschäftszwecken der Plattformen dienlich – den Content anzeigen, der die höchste Wahrscheinlichkeit für Interaktion bot, somit eine längere Verweildauer auf der Plattform und somit eine höhere Chance, Werbung von dafür zahlenden Kunden anzeigen zu können. – In beiden Fällen, allerdings, Sortierung nach Chronologie und Wahrscheinlichkeit der Interaktion, war die Quelle der Daten immer der Social Graph, also mein in Code übersetztes Soziogramm, das Freunde, Verwandte, Bekannte, jedenfalls aber Personen (und Unternehmen), für deren Inklusion ich mich bewusst entschieden hatte. Dem ist nun nicht mehr so und hierin liegt der Anfang vom Ende der sozialen Netzwerke.

Der Newsfeed wandelt sich in Auswahl und Sortierung nämlich ein weiteres Mal – und zwar grundlegend: Anstelle des Social Graph, der bislang die Quelle für Auswahl und Sortierung der in meinem Newsfeed dargestellten Beiträge diente, wird der Stream nun mit Nachrichten, Informationen und Themen befüllt, die auf einer allgemeinen, aus dem gesamten Nutzerinnen- und Nutzerstamm einer Plattform ermittelten Wahrscheinlichkeit der Interaktion beruhen. Der Algorithmus wird somit zu einer allgemeinen Empfehlungsmaschine, einer Discovery Engine ohne sozialem Bezug.

Das ist auch explizit so angedacht, wie aus dem Memo eines Facebook-Managers hervorgeht. Darin liest man auch, woher der Sinneswandel kommt.

A senior executive at [Facebook] announced a plan to modify the platform’s news feed […], tweaking the algorithm to display the most engaging content, even if these selections are “unconnected” to accounts that a user has friended or followed. Facebook, it seems, is moving away from its traditional focus on text and images, spread among people who know one another, to instead adopt TikTok’s emphasis on pure distraction. This shift is not surprising given TikTok’s phenomenal popularity, but it’s also shortsighted: platforms like Facebook could be doomed if they fail to maintain the social graphs upon which they built their kingdoms.

TikTok and the fall of the social-media giants

In anderen Worten: Facebook (und andere soziale Netzwerke) verlieren Userinnen und User in großer Zahl an TikTok und können sich nicht auf den sonst gut wirkenden Netzwerkeffekt mit der ihm innewohnenden Migrationsträgheit stützen, der Konkurrenten bisher vor große Herausforderungen gestellt hat. Warum? Weil TikTok den Netzwerkeffekt nicht benötigt, da sich sowohl Empfehlungen als auch Anziehungskraft des Anbieters nicht aus dem Social Graph nähren, sondern generisch durch Machine Learning generiert werden.

TikTok: Von Social keine Rede

Wer einmal ein wenig Zeit auf TikTok verbracht hat, hat einen nahezu perfekt auf einen selbst abgestimmten Newsfeed ohne jemals Freunde, Verwandte, Bekannte oder sonstige Quellen deklariert zu haben. Das macht TikTok vom Social Graph und von Netzwerkeffekten nahezu unabhängig und somit zu einem, nein dem größten Herausforderer der „alterndenen Plattformen“. (Das, nur so nebenbei, scheint mir auch ein subtil genutztes Marketingelement zu sein: TikTok forciert, aber vielleicht ist das nur mein Eindruck, alle Inhalte, die den Anbieter selbst mit Jugend und Zukunft in Verbindung setzen und gleichzeitig die bisher populären Plattformen – das inkludiert übrigens auch reguläre Medien! – als für ältere Menschen und somit als Legacy-Medien präsentieren. Der Spin ist teuflisch gut gemacht und treibt subtil einen Keil zwischen diejenigen, die auf TikTok präsent sind und diejenigen, die dem chinesischen Anbieter kritisch gegenüberstehen.)

TikTok ist erfolgreich mit seinem Empfehlungsalgorithmus. Sehr erfolgreich sogar. Der Anbieter ist der Berserker, der die etablierten, westlichen sozialen Medien gerade brutal auseinandernimmt. Und dabei geht es nicht nur um die Interaktion und Verweildauer von Userinnen und Usern…

…sondern auch – und vor allem – um die Nutzung und den Erfolg des Netzwerks als Werbemaschine. Wo mehr User, wo mehr Verweildauer, wo mehr los ist, dort halten sich die Melkkühe für das Ad-Business des Werberiesen auf. Doch sie wandern zu TikTok ab, denn TikTok hat ganz einfach den besseren Algorithmus. TikTok fixt uns an und holt aus uns heraus, was nur irgendwie möglich ist, meint man bei reb00ted:

This new advertising machine is powered not by friends and family, but by an addiction algorithm. This addiction algorithm figures out your points of least resistance, and pours down one advertisement after another down your throat. And as soon as you have swalled one more, you scroll a bit more, and by doing so, you are asking for more advertisements, because of the addiction. This addiction-based advertising machine is probably close to the theoretical maximum of how many advertisements one can pour down somebody’s throat. An amazing work of art, as an engineer I have to admire it.

Is this the end of social networking?

Facebook erstickt am sozialen Bezug, das kreative, offene Web atmet auf

Wundert es? Facebook und andere soziale Medien fußen auf einem Zustand, der vor sozialen Medien existiert hat. Facebook war lange Zeit ein zweiter Kanal, gleichsam eine Fortsetzung von Beziehungen, die offline stattfanden. Zu stark jedoch hat sich der Social Media-Gigant auf die Vermarktung sozialer Beziehungen konzentriert, zu wenig hat er seine eigene, auf die Gesellschaft niederschlagende, transformatorische Wirkung geachtet. Nunmehr ist Facebook, nein, ich korrigiere: die vermittels Technologie initial etablierte Beziehung zu Menschen zum primären Kommunikationskanal geworden – doch die großen Anbieter haben das immer noch nicht berücksichtigt. Sie haben, und so kann man das gut zusammenfassen, den Kulturwandel, den sie ausgelöst und gefördert haben, verschlafen. Cal Newport sieht genau darin hoffnungsvoll einen positiven Impetus für und die Zukunft der sozialen Medien optimistisch, sofern sie sich ihrer transformativen Wirkung bewusst werden, darauf reagieren und Kultur und ihren Wandel ernst nehmen. Nichts anderes lese ich aus dem letzten Absatz seines schon oben zitierten Beitrags.

The era of social-media monopolies has been unhealthy for our collective digital existence. The Internet at its best should be weird, energetic, and exciting—featuring both homegrown idiosyncrasy and sudden trends that flash supernova-bright before exploding into the novel elements that spur future ideas and generate novel connections. This exuberance was suppressed by the dominance of a small number of social-media networks that consolidated and controlled so much of online culture for so many years. Things will be better once this dominance wanes. In the end, TikTok’s biggest legacy might be less about its current moment of world-conquering success, which will pass, and more about how, by forcing social-media giants like Facebook to chase its model, it will end up liberating the social Internet.

Bin ich genauso optimistisch für das Web, wie es Cal Newport ist? Er spricht von „social Internet“, ein Begriff, der mir vor allem deswegen gut gefällt, weil er den sozialen Netzwerken, also den umzäunten Gärten des Internet, kontrastierend gegenüber steht. Und ja, insofern teile ich den Optimismus, denn alles, was offen und „liberating“ ist, ist grundsätzlich immer zu bevorzugen. Es hat halt aber auch einen ganz entscheidenden Nachteil: Facebook, Twitter, aber auch TikTok, handeln im Eigeninteresse, wenn sie zu Kreativität und, ganz allgemein, zu diversen Aktionen im Internet aufrufen, auch wenn die Resultate dann wiederum eingezäunt von den jeweiligen Plattformen zu sehen sind. Den Schritt zur eigenen Website, sozusagen der Schritt, sich um die für die Kreativität notwendige Infrastruktur selbst zu kümmern, darf man nicht unterschätzen; er ist der technische und finanzielle Bremsklotz vieler an sich kreativer Menschen. Da nimmt man lieber ein bisschen weniger Kreativität zugunsten einer kostenlosen Plattform in Kauf.

Also?

TikTok stellt aktuell mit seinem auf Machine Learning und nicht auf den Empfehlungen des Social Graph basierenden Algorithmus die althergebrachten sozialen Netzwerke in den Schatten. Nutzerinnen und Nutzer verlassen die alten sozialen Netzwerke in Scharen und finden sich fast alle bei TikTok wieder. Nicht nur das Format (Video), sondern auch die Empfehlungen sind zeitgemäß und gut angepasst. Grundsätzlich passives Glotzen, kombiniert allerdings mit ein wenig aktivem Scrollen, ist das Gebot der Stunde. Der Anfang vom Ende der sozialen Netzwerke begründet sich zum einen damit, zum anderen durch die Verkehrung sozialer Interaktion. Wir unterhalten uns nicht mehr und berichten dann auf einem Social Media-Kanal darüber, sondern wir beginnen unsere Unterhalten auf Social Media und setzen die Unterhaltung dann in personam fort. Facebook und Twitter haben diese Entwicklung entweder verschlafen oder schlichtweg nicht unterstützt und sehen sich jetzt von einem System bedroht, das auf diese Entwicklung keine Rücksicht nehmen musste. Wer auch immer sich mit dem breiten Thema Netzkultur beschäftigt, sollte das im Auge behalten, denn das wird noch sehr, sehr spannend, zumal nicht gesagt ist, dass die programmtechnischen Strukturen, die Facebook und andere Konzerne aufgebaut haben, sofern nicht mehr genutzt, nicht etwa zur Implosion eines Netzwerks führen könnten.

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