7 × 8 = 102

Wenn ein Blick schneller ist als das bewusste Denken, dann ist das ein gutes Argument dafür, wie mühelos Denken sein kann, wenn es einmal ins unbewusste und automatisierte, gesicherte Wissen übergegangen ist. KIs fordern das indirekt heraus. Verlieren können nur wir.

Und? Triggert der Titel dieses Beitrags irgendetwas? Merkt ihr etwas? Sträubt sich irgendetwas in euch, wenn ihr die Rechnung oben stehen seht? Wie lange hat es gedauert, bis ihr etwas bemerkt habt? War die Bewusstwerdung aktiv, also musstet ihr darüber nachdenken, oder war sie präsent und ihr wart erstaunt, wie schnell das eigentlich ging, als ihr meine ersten Worte im Artikel gelesen habt? Kann es sein, dass euer Gehirn dieses Ergebnis bereits als falsch markiert hat, noch bevor euch bewusst wurde, dass diese Rechnung falsch ist? Oder, in anderen Worten: Kann es sein, dass ihr, noch ohne die Rechnung wirklich gelesen zu haben, geschweige denn, nachgerechnet zu haben, bereits wusstet, dass sie falsch war?

Nun, das bringt uns zum Thema. Auswendiglernen, und sei es nur das kleine Einmaleins, lässt uns im Denken sehr, sehr, sehr schnell werden, bishin zu dem, was man Expertise nennen könnte: Wer auswendig gelerntes Wissen in die Grundfesten seines Wesens eingebaut hat, benutzt dieses Wissen wie seine Arme, Beine und andere Körperteile; unbewusst, aber doch zum Nutzen eines großen Ganzen, dem Menschen, nämlich, der sich in einer natürlichen oder intellektuellen Umwelt bewegen und behaupten soll.

Die permanente Präsenz von auswendig Gelerntem hält Assoziationen, Verbindungen, Verknüpfungen, logische Ausschlüsse und dergleichen permanent und in jedem Denkzyklus präsent. Es ist das Gegenteil von dem, was man mit ChatGPT und anderen Künstlichen Intelligenzen schafft; denn dort ist das Wissen temporär, im Moment der Ausgabe wieder obsolet und keinesfalls von unseren Körpern verarbeite, geschweige denn in unser Wesen implementiert. Da wir dieses „Wissen“ aber benötigen, um uns in unserer Umwelt zu bewegen, gaukeln wir uns vor, dass es Wissen sei, was uns ChatGPT ausgibt, auch wenn es in Wirklichkeit nur ein So-tun-als-ob ist (und ich persönlich glaube, dass jeder und jede instinktiv weiß, dass das, was im Chat mit einer KI herauskommt, bestenfalls gut genug ist, es aber nicht mit tatsächlicher, intellektueller Leistung aufnehmen kann; zu fahl ist der Beigeschmack der Textsauce, des Slops, der da produziert wird).

Unsere Intelligenz leidet also unter Künstlicher Intelligenz, weil sie uns der Notwendigkeit beraubt und uns faktisch die Möglichkeit nimmt, Dinge auswendig zu lernen. Dadurch gelingt es uns immer seltener mit Assoziationen oder komplexen Gedankengängen umzugehen, sie nachvollziehen oder gar formulieren zu können. Das Level, das wir bisher ganz allgemein als „halbwegs intelligent“ bezeichnet haben, sinkt gerade; und das nicht nur ein wenig. Wenn der Automatismus einmal weg ist, wird es schwierig.

Genuine expertise emerges from the interplay between two complementary memory systems, each with its own character and purpose. The declarative system handles conscious facts and concepts; the deliberate recall of explicit information. It functions like a rapidly learning but somewhat cumbersome library, carefully cataloging new acquisitions. […] The procedural system, by contrast, acquires habits, skills, and routines through repeated practice. It operates like a well-trained craftsman who has internalized technique to the point of artistry. With sufficient practice, seven times eight becomes not a fact to be retrieved but a response as automatic as breathing.

Carl Hendrick

Und noch präziser auf den Automatismus des Denkens eingehend, auf das also, was Geschwindigkeit, Erfahrung und Expertise, somit Intelligenz oder zumindest kritisches und relevantes Denken ausmacht, Carl Hendrick:

I always think of drummers here. They must perform multiple, often conflicting rhythms; left hand, right hand, left foot, right foot, all in synchrony without conscious effort. Each limb maintaining its own pattern while contributing to a unified whole. At first, every movement demands attention. But with repetition, the patterns become procedural; the drummer no longer thinks about each beat but can concentrate on more complex things like the actual song and […] interpretive choices that breathe life into what would otherwise be mere mechanical execution.

This is expertise: not conscious calculation, but fluency born of deep practice. The paradox is that by memorising so much you can actually forget about the very thing that took up all your cognitive bandwidth. The automaticity is a liberation and affords the bandwidth for the kind of creativity that separates novices from experts.

Carl Hendrick

Wir kennen das alle: Wenn man sich mit jemandem unterhält, der von der Materie, um die es geht, wenig Ahnung besitzt, somit alles, jeder Begriff, jedes Konzept, jedes einzelne Element erklärt werden muss, dann wird es schwierig, ein komplexes Problem begreifbar zu machen. (Es ist die Kunst der Lehre, das nur nebenbei, genau das zu erreichen.) Man muss also den Gesprächspartner zuerst auf einen Wissensstand heben, der es möglich macht, dass er einem in seinen Ausführungen folgen kann. Doch hebt man jemanden einmal auf den gleichen Wissensstand, ergibt sich das Wissen über das Problem, das man ansprechen wollte, meist ohnehin von selbst. Derjenige, dessen Wissen um Fakten und Zusammenhänge angereichert wird, erkennt plötzlich das Problem, das dazu geführt hat, dass wir überhaupt begonnen haben, dem Gesprächspartner die Materie zu erklären, von selbst. So sehr greift Wissen ins Denken ein!

Hätte der Gesprächspartner das Wissen aber kontinuierlich parat, so die Position von der anderen Seite heraus betrachtet, hätte er das Problem vielleicht selbst erkannt. Es ist also schon etwas dran, sich Wissen anzueigenen und das nicht nur unter Zuhilfenahme externen „Denkens“ (vulgo: Nutzens von ChatGPT) durchzuführen.

When we constantly outsource basic operations to external systems, we prevent this crucial transition [of automaticity]. Students may get correct answers, but they never develop the procedural fluency that enables genuine […] thinking. […] Without internalised knowledge, there is no deep understanding, no flexible thinking, no meaningful creativity. The most advanced AI can simulate intelligence, but it cannot think for you. That task remains, stubbornly and magnificently, human. Yet perhaps the most insidious aspect of cognitive offloading is not what we lose, but our inability to recognise the loss. […] A generation raised on external cognition may never develop the internal dialogue that characterises deep thought, the ability to hold multiple, contesting ideas in tension, to sense contradictions, to bear the weight of knowledge accumulated through struggle. […] The loss is not just intellectual but spiritual: we risk becoming strangers to our own minds, fluent performers of intelligence we do not possess, successful at tasks that require no growth, no struggle, no transformation of the self.

Carl Hendrick

Vielleicht sollten wir den Erwerb von Wissen weniger als Bildungsthema und viel mehr als ganz grundlegende, dem Menschsein innewohnende Notwendigkeit erachten und uns doch mehr die Frage stellen, ob uns KI – derart eingesetzt – nicht etwas wegnimmt, das, auch wenn es lästig erscheint, uns doch ganz bestimmt ausmacht.

In einem Artikel, in dem die Vorteile des Auswendiglernens anhand vieler, sehr praktischer Beispiele, verdeutlicht werden, schließt der Autor mit dem unten zitierten Abschnitt, der abermals das Absinken des bewussten Wissens ins eigene Wesen verdeutlicht. Der Prozess auch noch historisch betrachtet; insofern, als dass die großen Glaubensrichtungen – im Artikel wird der Islam angeführt, aber nicht viel anders verhält es sich ja auch bei allen anderen Glaubensrichtungen – bereits früh erkannt haben, dass der Übergang von aktivem, bewusstem Wissen ins Wesen einer Person substantielle Veränderung bewirken kann und, einmal in die Wärme des Lebens aufgenommen, in den meisten Fällen positive Auswirkungen auf das Leben der jeweiligen Personen hat.

Subconsciously, when you learn a piece by heart, its message penetrates deep inside you. It lies at your fingertips, ready for you to make use of it. Many cultures have long understood this. In Islam, people who memorize the entire Koran are given the special title of hafiz, or guardian. In a secular equivalent, I know people who have memorized [a] poem […] to give them a moral helping hand at times of crisis. […] Even if you don’t really understand it the first time, memorizing information and literature gives you the opportunity to come back to it. In the words of a college professor of mine, the point of a liberal arts education is to give you what to think about. Having literature, poetry, or even just quotations at the tip of your fingers makes for a more vivid, vibrant, and resonant life.

In Praise of Memorization

Und kann man das, ein lebendigeres und aktiveres Leben, nicht wollen?!

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