JD Vance über die europäische Interpretation freier Meinungsäußerung

JD Vance attestiert Europa, die freie Meinungsäußerung nicht zuzulassen und politische Parteien von der Diskussion auszuschließen. Der Vorwurf wirkt auf mehrfache Art und Weise.

David Heinemeier Hansson provoziert mit einem Artikel, der den Titel „Europeans don’t have or understand free speech“ trägt. Sein Statement nährt sich aus dem „nicht akzeptabel“-Kommentar des deutschen Vertreidigungsministers Boris Pistorius als Kommentar auf die Rede des US Vizepräsidenten JD Vance, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz, ja, man muss es so drastisch formulieren wie die deutsche Tagesschau, mit den Europäern abgerechnet hat.

Schon in den ersten Sätzen der Rede dreht der Vizepräsident das Thema Sicherheit auf links. Es sei nicht der äußere Feind, den es zu bekämpfen gilt, sondern der, der es sich im Inneren gemütlich gemacht hat. Doch wer genau ist dieser Feind im Inneren? Vordergründig, so JD Vance, ist das ein „asylum seeker, often a young man in his mid-20s, already known to police, [who] rams a car into a crowd and shatters a community“. Tatsächlich aber, so der Logik seiner Rede folgend, säße der innere Feind ganz wo anders. Das Volk würde sich schon gegen die eben charakterisierten „Feinde“ wehren, es gibt aber eine Gruppe von Menschen, eine Elite, sozusagen, die genau das nicht zulässt, die die Menschen in ihrer Abwehr blockiert, in dem sie den Regeln der Demokratie nicht (mehr) folgt und populäre Meinungen als etwas anderes darstellt; etwas, nämlich, das strafrechtlich greifbar ist, und so – in Europa erfolgreich – versucht, die in der Bevölkerung herrschende Stimmung und die daraus erwachsenden politischen Bewegungen zu unterdrücken. Der innere Feind, so der unausgesprochene, aber auf der Hand liegende Schluss aus der Rede des US Vizepräsidenten, säße an den Hebeln der Macht, und unterdrücke seine eigene Bevölkerung.

Ein Statement eines US Politikers auf einer europäischen Sicherheitskonferenz, die man sich auch einmal auf der Zunge zergehen lassen muss. Aber sehen wir uns die Rede in ein paar Zitaten im Detail an. Sie ist auf YouTube vollständig verfügbar und das Handelsblatt hat sie transkribiert und übersetzt.

We gather at this conference […] to discuss security. And normally, we mean threats to our external security. […] The threat that I worry the most about vis-a-vis Europe is not Russia, it’s not China, it’s not any other external actor. And what I worry about is the threat from within. The retreat of Europe from some of its most fundamental values, values shared with the United States of America. […] When I look at Europe today, it’s sometimes not so clear what happened to some of the Cold War’s winners. I look to Brussels, where EU commissars warn citizens that they intend to shut down social media during times of civil unrest. The moment they spot what they’ve judged, to be „hateful content“. […] Now, we’re at the point, of course, that the situation has gotten so bad that […] Romania straight-up canceled the results of a presidential election. Based on the flimsy suspicions of an intelligence agency and enormous pressure from its continental neighbors. […] The argument was that Russian disinformation had infected the Romanian elections. But I’d ask my European friends to have some perspective. You can believe it’s wrong for Russia to buy social media advertisements to influence your elections. We certainly do. You can condemn it on the world stage, even. But if your democracy can be destroyed with a few hundred thousand dollars of digital advertising from a foreign country, then it wasn’t very strong to begin with. […] Which, of course, brings us back to Munich, where the organizers of this very conference have banned lawmakers representing populist parties on both the left and the right from participating in these conversations. […] We don’t have to agree with everything or anything that people say. But when people represent, when political leaders represent an important constituency, it is incumbent upon us to at least participate in dialogue with them.

Handelsblatt

Und der nun unmittelbar folgende Teil der Rede, der wohl bei einigen Teilnehmern für Kopfschütteln gesorgt bzw. Salz in offene Wunden gestreut hat. Ach, was heißt bei einigen Teilnehmern!? Was JD Vance da anspricht, können wir momentan jeden Tag (hier in Österreich) live in der Argumentation diverser Politikerinnen und Politiker miterleben. Diese Art der Begründung bzw. Herleitung, die nach Änderung verlangt, können wir in allen, etablierte Machthaber herausfordernden Bewegungen wiederfinden. Sie alle bekommen nun mit diesem Statement des amerikanischen Vizepräsidenten einen starken Verbündeten.

To many of us on the other side of the Atlantic, it looks more and more like old, entrenched interests hiding behind ugly, Soviet-era words like misinformation and disinformation who simply don’t like the idea that somebody with an alternative viewpoint might express a different opinion or, God forbid, vote a different way or, even worse, win an election. […] No voter on this continent went to the ballot box to open the floodgates to millions of unvetted immigrants. […] And more and more all over Europe, they’re voting for political leaders who promise to put an end to out-of-control migration. […] What German democracy, what no democracy, American, German, or European, will survive is telling millions of voters that their thoughts and concerns, their aspirations, their pleas for relief, are invalid or unworthy of even being considered. Democracy rests on the sacred principle that the voice of the people matters. There’s no room for firewalls. You either uphold the principle or you don’t.

Handelsblatt

Holy shit.

Sicherlich, man könnte jetzt herangehen und die Rede zerpflügen. Jedes einzelne Thema herausnehmen und auf die andere Seite des Atlantiks projizieren, jeden Zugang dekonstruieren, jedes Statement in den konkreten Kontext setzen, der es wahrscheinlich in etwas anderem Licht darstellen, relativieren oder die Beweggründe für die verschiedenen, von Vance angesprochenen Aktionen, rücken wird. Aber das werde ich jetzt hier nicht tun. Stattdessen möchte ich mir an einem Beispiel genauer ansehen, warum sich ein David Heinemeier Hansson dazu bemüßigt fühlt, die Reaktionen vor allem Deutschlands auf diese Rede („nicht akzeptabel“), mit einem Artikel zu kommentieren, der uns Europäern das Verständnis der freien Meinungsäußerung abspricht. Sehen wir uns an, was da so an Argumenten genannt wird. Vielleicht erkennt ja die eine oder der andere ein paar Argumente wieder?

Vance dared poke at two of the holiest taboos in European politics. […] Let’s start with his points on free speech, because they’re the foundation for understanding how Europe got into such a mess on mass immigration. See, Europeans by and large simply do not understand „free speech“ as a concept the way Americans do. There is no first amendment-style guarantee in Europe, yet the European mind desperately wants to believe it has the same kind of free speech as the US, despite endless evidence to the contrary. It’s quite like how every dictator around the world pretends to believe in democracy. […] In America, your speech is free to be wrong, free to be hateful, free to insult religions and celebrities alike. […] Which brings us to that last bugaboo: Mass immigration. Vance identified it as one of the key threats to Europe at the moment, and I have to agree. So should anyone who’ve been paying attention to the statistics showing the abject failure of this thirty-year policy utopia of a multi-cultural Europe. The fast changing winds in European politics suggest that’s exactly what’s happening. […] The […] „that’s racist!“ playbook is now being run on political parties across Europe who dare challenge the mass immigration taboo. But making plain observations that some groups of immigrants really do commit vastly more crime and contribute vastly less economically to society is not racist. […] So Vance was right to wag his finger at all this nonsense. The lack of free speech and the problems with mass immigration. He was right to assert that America and Europe has a shared civilization to advance and protect. Whether the current politicians of Europe wants to hear it or not, I’m convinced that average Europeans actually are listening.

David Heinemeier Hansson

Natürlich gibt es auch Unmengen an Beiträgen anderer Personen, ich habe mir aber den von David Heinermeier Hansson deshalb herausgesucht, weil er fast an Perfektion grenzend das Freiheit zur Meinungsäußerung-Lied anstimmt. Weil er zu vergessen scheint, dass Europa es schon miterlebt hat, was es bedeutet, wenn „Meinungsfreiheit“ und die Freiheit, sie zu äußern, dazu führt, dass eine eben diese Freiheit einschränkende Gruppierung an die Macht kommt. Weil Deutschland es schon miterlebt hat, was es bedeutet, wenn eine Partei sich mit rechtsstaatlichen Mitteln „ermächtigt“, zum Wohle des Volkes zu agieren, auch wenn das bedeutet, dass die einzig gültige Interpretation des Volkswohls die der Partei ist. Weil die Überlebenden des Wahnsinns, der folgen sollte, eine subtile Grenze zwischen dem, was gesagt werden kann (Freie Meinungsäußerung nach US-Vorbild) und dem, was nach den Erfahrungen, die Europa, insbesondere Deutschland, gemacht hat, gesagt werden darf (Freiheit zur Meinungsäußerung in der europäischen Interpretation) gezogen haben, die uns davor bewahren soll, in einen Abgrund zu rutschen, der aus der Möglichkeit von absoluter Freiheit zur Meinungsäußerung abgeleitet werden kann.

Die zweite, die europäische Interpretation der Freiheit ist also eine, die zwar eingeschränkt wirkt, dadurch aber gleichzeitig verhindert, zu zukünftiger, weitaus härterer und womöglich mit Sanktionen belegter Einschränkung zu führen. Diese Art der Freiheit erlaubt es nicht, „Meinungsfreiheit!“ zu plärren und jeden Mist in die Diskussion zu rotzen, da muss man schon kurz innehalten und sich überlegen, was man da eigentlich von sich gibt und wie sich das womöglich auswirken könnte. Die europäische Vorstellung von Freier Meinungsäußerung kann man gut mit dem Straßenverkehr vergleichen: Wenn sich alle an die Regeln halten und diese Regeln keine groben Einschnitte des Alltags mit sich bringen, so hilft es allen Beteiligten, weil sie gut vorankommen. Die amerikanische Variante würde es möglich machen, einfach mal so die Autobahn zu sperren, mit dem Fahrrad auf der Überholspur zu fahren oder einen Garten auf eine Kreuzung zu bauen.

Die eine Freiheit versucht, den steten Fluss zu bewahren, vor allem aber, Blockaden dieser Freiheit zu verhindern. Die andere ist so absolut, dass sie sich selbst abschaffen könnte. Ein Paradoxon, übrigens, das Karl Popper in Bezug auf Toleranz so ähnlich schon formuliert und auch gleich eine Lösung für das Problem postuliert hat.

Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. […] Wir sollten für uns das Recht in Anspruch nehmen, [intolerante Philosophien], wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken, denn es kann sich leicht herausstellen, dass ihre Vertreter nicht bereit sind, mit uns auf der Ebene rationaler Diskussion zusammenzutreffen, und beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten. […] Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.

Karl Popper

Europa trennt die Meinungsfreiheit nicht von der Verantwortung, die daraus entstehenden Konsequenzen tragen zu müssen. In den USA ist diese Meinungsfreiheit ein Wert für sich. Die Konsequenzen sind, wir sehen das ja auch bei hohen Amtsinhabern, die demokratische Institutionen stürmen lassen und ohne gröbere Schäden davonkommen, ein anderes Thema.

Die Freiheit, seine Meinung zu äußern, ist in Europa an die Konsequenzen gekoppelt, die diese Meinungsäußerung mit sich bringt. Wenn diese Konsequenzen problematisch werden könnten, ermöglicht das in Europa Sanktionen. In den USA nicht. Dort schützt das „First Amendment“ jeden und jede vor solchen Sanktionen. Etwas zu behaupten/seine Meinung zu äußern steht scheinbar in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Konsequenzen des daraus erwachsenden Handelns. Und wir in Europa? Wollen wir eine kleine Einschränkung in Kauf nehmen, um das große Ganze zu schützen oder wollen wir auf diese kleine Einschränkung verzichten, dabei aber riskieren, das große Ganze zu verlieren? Ich denke, die ganze Debatte spitzt sich genau darauf zu.

Hunderte, wenn nicht tausende Beispiele in Europa weisen darauf hin, wie problematisch der Gedanke der freien Meinungsäußerung sein kann, wenn Politiker zB Internetuser klagen, weil sie eben jene Politiker als Volltrottel bezeichnen. Klage statt argumentatives Dagegenhalten. So beginnt, früher oder später, das Recht als Waffe gegen die von der Bevölkerung noch als frei wahrgenommene Meinungsäußerung angesehen zu werden.

Wenn sich Menschen zwei Mal überlegen, ob sie ihre Gedanken frei äußern und veröffentlichen können, weil die Gefahr besteht, dass sie dafür oder für Teile davon verklagt werden könnten, dann ist der Bogen zu weit gespannt. Die Fiktion der Ausgeglichenheit zwischen tatsächlicher, gelebter freier Meinungsäußerung und dem Recht dazu am Papier, wird aufgehoben, wenn dieses Recht durch die Klagspraxis derer, die es sich leisten können, de facto ausgehebelt wird. Es wird für europäische Politikerinnen und Politiker schwierig werden, dieses Gefühl, das es definitiv in der hier lebenden Bevölkerung gibt, zu widerlegen. Womit wir wieder bei JD Vances Rede wären, der zwar extreme, aber nachvollziehbare Beispiele anführt, die beweisen, dass es hier eine Unstimmigkeit zwischen der Subtilität der Einschränkung der freien Meinungsäußerung gibt, die nur dem Zweck dienen soll, sie insgesamt zu stärken. Eine in meinen Augen mehr als bedenkliche Entwicklung, die in gewisser Weise aber auch gepflegt wird. Mit hohem Risiko für diejenigen, die ihre Meinung anderen mitteilen wollen und meist mit wenig Risiko für diejenigen, die diese Meinung nicht aufkommen lassen wollen. Hier entsteht eine Asymmetrie, die einen Keil zwischen die, die es sich leisten können, und jene, die es sich nicht leisten können, den Rechtsweg zu bestreiten, treibt. Eine Sollbruchstelle für den Einfall einer Partei, die ersteren eine Stimme verleiht, auch wenn diese verliehene Stimme weitaus radikaler ist als alles, was die sich als de facto unterdrückt empfundene Gruppe von Menschen je behaupten würde.

Wie soll man also mit der Kritik an der Einschränkung der freien Meinungsäußerung umgehen, wenn – und hier bin ich auf JD Vances Seite – die schwebende Gefahr besteht, plötzlich für etwas, das man zum Beispiel auf X, Facebook oder Instagram veröffentlicht hat, bezahlen zu müssen, weil sich jemand auf den Schlipps getreten fühlt, der im gleichen Atemzug aber auf politischen Reden ähnlich schwerwiegende Worte schwingt? Wie soll man mit Slap-Klagen von Politikern umgehen, wenn man sich bemüßigt fühlt, seine Meinung kund zu tun und diese eben jenen nicht gefällt? Wann beginnt man die Einschränkung zu spüren und sich damit in die Hände derer zu begeben, die genau diese Einschränkung, wenn auch aus anderen Beweggründen, kritisieren? Wann ist es soweit, dass sich jemand, der sich noch zurückhält, weil er Angst vor Bestrafung hat, zu einer Gruppierung hingezogen fühlt, die ihm als Sprachrohr dient, auch wenn sie eigentlich gegen die Prinzipien arbeitet, die eine offene Diskussion erst ermöglichen würde? Wann wurde die freie Meinungsäußerung in der Praxis so sehr mit Einschränkungen belegt – und dabei zählt nicht, ob es tatsächliche oder nur wahrgenommene Einschränkungen sind – dass eine Gruppe von Menschen sich so sehr bedroht sieht, etwas sagen zu dürfen, dass sie sich freiwillig und aktiv an Personen und Parteien wendet, deren Hintergedanke ein anderer ist, deren vordergründiges Handeln aber vermeintlich Erlösung von diesem Zwang zu schweigen mit sich bringt? In anderen Worten: Wann (und wie) haben wir den Punkt erreicht, an dem die Wenigen den Bogen durch Nutzung des Rechts so sehr überspannt haben, dass die Vielen sich beginnen gegen die Definition der freien Meinungsäußerung auszusprechen und aktiv – durch Wahlstimmen, zumindest – dagegen vorgehen? Ist die freie Meinungsäußerung vielleicht doch besser, wenn sie absolut angesehen werden und völlig ohne Einschränkung zu handhaben ist?

Nein, argumentiert man beleidigt in Europa, so ist das alles nicht! Und dann erscheint ein Bericht in einer von CBS News produzierten Dokumentation („60 Minutes“), in der das alles, das angeblich nicht so ist, infrage gestellt wird. CBS News offenbart in seiner Doku, dass die allgemein (in der Bevölkerung) als „freie Meinungsäußerung“ verstandene Tätigkeit mit der rechtlich als solche definierten zwar in großen Teilen überlappt, aber eben doch nicht deckungsgleich ist.

Wir alle kennen die Phrase „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Wir alle haben uns aber noch nie gefragt, wo die denn herkommt und warum sie bei uns, hier im deutschsprachigen Raum, so allgemein bekannt ist. Warum gibt es in der deutschen Sprache einen allen hier bekannten Satz, der eine Verteidigungsposition gegenüber dem widerspiegelt, was man gesagt hat? Dass es ihn gibt, bedeutet wohl also nicht anderes, als dass es nicht erst seit kurzem einen Unterschied in der Wahrnehmung dessen, was gesagt werden kann, und dem, was gesagt werden darf, gibt.

Wo genau verläuft nun aber die Grenze zwischen freier Meinungsäußerung und dem, was das Recht als freie Meinungsäußerung definiert? Viel wichtiger aber: Wer definiert, was das Recht noch im Bereich der freien Meinungsäußerung ansieht und was nicht? Wir alle wissen, ohne es zu äußern, dass sobald einmal etwas vom Recht definiert wird, die allgemeine und gelebte Interpretation desselben Gegenstandes, Sachgebiets, Themas, Verhaltens oder worauf auch immer sich die Definition bezieht, meist nichts mehr mit der rechtlichen Definition desselben zu tun hat und somit nur noch Verhandlungsgegenstand rechtlicher Prozesse ist, nicht aber gelebte Realität, die auch abseits der kontinuierlichen Rückprüfung auf rechtliche Einwände funktionieren muss. Wäre dem nämlich so, so denke ich, würde jegliche politische Diskussion sehr rasch an den Regulativen ersticken und der Status Quo wäre einzementiert.

Wait a minute…

Das Beispiel, das in der Dokumentation gebracht wird, zeigt es deutlich: Es ist die Aufgabe eines winzig kleinen Teams von Menschen zu definieren, was gesagt werden darf und was nicht. Und die Reaktion der Person, die in der Früh von der Polizei überrascht wird, bestätigt, was ich oben geschrieben habe.

What’s the typical reaction when the police show up at somebody’s door and they say, „Hey, we believe you wrote this on the internet,“? […] Dr. Matthäus Fink: […] In Germany we say, „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ So we are here with crimes of talking, posting on internet, and the people are surprised that this is really illegal to post these kind of words. […] Sharyn Alfonsi: They don’t think it was illegal? Dr. Matthäus Fink: No. They don’t think it was illegal. And they say, „No, that’s my free speech.“ And we say, „No, you have free speech as well, but it is also has its limits.“ Interpreting those limits is part of the job [for] a few of the state prosecutors tasked with policing Germany’s robust hate speech laws, online. After its darkest chapter, Germany strengthened its speech laws. As prosecutors explain it, the German constitution protects free speech but not hate speech. And here’s where it gets tricky, German law prohibits any speech that could incite hatred or is deemed insulting.

CBS News

Natürlich ist das Öl ins Feuer und Herr Hansson, der – natürlich auf X – mit einem Ausschnitt dieses Berichts konfrontiert wurde, ereifert sich in einem weitern Artikel zu JD Vances Rede.

60 Minutes validates [JD Vance’s] worst accusations in a chilling segment on the totalitarian German crackdown on free speech. […] This is German prosecutors telling an American journalist in an open interview that insulting people online is a crime and retweeting a „lie“ will get you in trouble with the law. […] Fifty raids in a day! For wrong speech, spicy memes, online insults of politicians, and other utterances by German citizens critical of their government or policies! […] I suppose this is why European leaders are in such shock over Vance’s wagging finger. Because they know he’s dead on, but they’re not used to getting called out like this. On the world stage, while they just had to sit there. I can see how that’s humiliating.

David Heinemeier Hansson

An dieser Stelle höre ich auf und beende meinen Artikel. Ich lasse diese, unsere, also die europäische Interpretation der freien Meinungsäußerung kritisierenden Statements so stehen. Als Denkaufgabe, sozusagen, denn nichts ist fruchtbringender und einen selbst weiter bildender als Kritik an der gängigen Praxis.

Ist das Recht auf freie Meinungsäußerung kompatibel mit der gelebten Praxis derselben? Sind die Einschränkungen akzeptabel und noch zeitgemäß? Finden wir es okay, dass letzten Endes eine im Verhältnis kleine, von Bürokratie und Beamtentum aufgezogene Gruppe von Juristinnen und Juristen auslegt, ob, was Herr Müller oder Frau Meier online gepostet hat, noch unter die freie Meinungsäußerung fällt? Sind nicht die Gefahren einer Einschränkung der freien Meinungsäußerung mittlerweile größer als das – eben nur noch angeblich – durch sie geschützte Gut, wenn die Praxis mehr und mehr zeigt, dass die Einschränkung des Rechts wenn schon nicht als Waffe, dann aber zumindest als Drohung genutzt werden kann? Die ganze Sache ist so dermaßen komplex und beinhaltet so viele Abwägungen unterschiedlicher Herangehensweisen, Interpretationen und so vielen Hintergrundwissens, dass ich mich in nächster Zeit mehr damit beschäftigen werde.

Aber eines ist jetzt schon klar: Wenn man an den Fragen, ob man denn dieses oder jenes überhaupt sagen darf, erstickt und daran zu zweifeln beginnt, ob man dann das, von dem man eben nicht weiß, ob man es sagen darf, überhaupt noch veröffentlichen will, dann befinden wir uns mitten in dem, wofür es einige Begriffe gibt, zu denen Chilling Effekt, vorauseilender Gehorsam und – oft damit im gleichen Atemzug genannt – Selbstzensur gehören. In anderen Worten: Wenn irgendjemand in Europa auch nur im Ansatz an die Möglichkeit von Bestrafung denkt, wenn es um die Äußerung der eigenen Meinung geht, dann hat JD Vance mit seinem Vorwurf Recht behalten. Und gleichzeitig kommt dann der Popper daher und hat auch Recht.

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